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2024-11-19

Ich hätte gerne eure Aufmerksamkeit: Für Crumble Bee

Eine sehr gute Freundin von mir lag vor vielen Jahren für eine ausführlichere Diagnostik im Krankenhaus. Die Mitpatientin in ihrem Zimmer erhielt eine letale Diagnose, erschreckend kurzfristig von den Ärzten datiert und leider sollten sie Recht behalten. In den nur wenigen Wochen ist meine Freundin damals eingesprungen, hatte sich um die Patientin, den Hund der Patientin und die völlig überforderte Familie dieser Frau gekümmert.

Und fand so in der Folge ihre Bestimmung in der Hospizbetreuung, teilweise ehrenamtlich, teilweise in Anstellung. Dabei hat sie sich schwierigeren Themen angenommen, nämlich todkranken Menschen mit zusätzlich schwerer Drogensuchtproblematik zu begleiten. Übrigens, zusammen mit ihrem grandiosen Hund, der seine Berufung als Therapiehund vom ersten Tag gefunden hatte. Der Rest ist Geschichte.

Vor fünf Jahren hatte sie, Katrin, gemeinsam mit ihrer Kollegin Birgit, die Kindertrauergruppe in dem Gemeinschaftshospiz Christopherus in Berlin (Havelhöhe) gegründet. Die Notwendigkeit lag und liegt auf der Hand: Es sind im Hospiz nicht nur die schwerkranken Menschen, die begleitet werden. Es sind die Familien mit Kindern, Freunden, die den letzten, nicht immer einfachen Weg ihrer Angehörigen dort mitgehen. Nicht viele Erwachsenen können selber mit dem Abschied, dem Sterben umgehen, wie sollen sie Kindern bei der Verarbeitung gut begleiten können? Diese Kinder haben einen Elternteil verloren, vielleicht die Schwester oder den Bruder, die Großeltern oder die beste Freundin oder den besten Freund. Oder sind noch in der langen Phase, dass sie zurückgelassen werden, müssen diese aushalten. Irgendwie.
Sie bleiben oft zurück in ihrer eigenen Welt. Traurig. Trauernd. Manchmal sprachlos, manchmal aggressiv. Nicht selten mit großen Schuldgefühlen. Und mit Fragen. Wie wichtig es ist auf Menschen zu treffen, die sich in ihrer Sprache mit ihnen unterhalten können, sich mit (mehr oder weniger) Gleichaltrigen zu treffen, die auch Sterben erleben mussten, lässt sich leicht vorstellen. Die Erlebnisse und Gedanken teilen, aber genauso nur eine gute Zeit gemeinsam zu erleben – vielleicht sogar fröhliche Zeiten, weil zwischendurch unbeschwerte Momente gelebt werden – jenseits eines trauernden Zuhauses und Umfeldes, das kann heilsam sein. Kind sein zu dürfen, auch fröhlich, mit dem ganz individuellen Schmerz in einem gemeinsamen Umgang in der Trauer.

Das ihnen zu ermöglichen, haben sich Katrin und Birgit zu ihrer Aufgabe gemacht, erst in einem kleinen Rahmen. Inzwischen ist die Kindertrauergruppe gewachsen. Leider. Ungefähr 25 Kinder (in fast jeder Altersstufe) werden von ihnen aktuell begleitet. Und: Die Warteliste ist lang. Denn sie begleiten nicht nur Kinder, deren Familienangehörige in o.g. Hospiz gegangen sind – sondern sie sind offen für alle trauernden Kinder. Manchmal ist ein Elterteil selbsbestimmt gegangen, manchmal durch einen schrecklichen Unfall unvermittelt aus dem Leben gerissen worden. Es ist eine bezirksoffene Kindertrauergruppe in Berlin. Sie gestalten ihre Zeit miteinander, hören zu, lassen die Kinder sein. Beide Frauen haben inzwischen auch die notwendigen Zusatzqualifikationen erworben, die eine Begleitung der Kinder über die Sozialämter beauftragt ihnen ermöglicht.
Birgit hat selber privat ein Pferd und hatte in der Vergangenheit Kinder, für die es besonders schwer war, einen Weg aus ihrem Rückzug zu finden – was manchmal auch nur heißt: in der Kindertrauergruppe sich nicht öffnen zu können – ab und zu mitgenommen zu ihrem Pferd. Mit schönen Erlebnissen und ziemlich guten Ergebnissen für diese Kinder. Daraus entstanden ist die Tradition, dass sie mit allen Kindern einmal im Jahr zu diesem Gestüt fahren, das als Erlebnishof auch Schlafmöglichkeiten vorhält, um mit den Kindern ein langes und möglichst unbeschwertes Wochenende zu verbringen. Mit den Pferden und anderen Tieren, im Zelt – im Grünen.
Davon wird einiges über das Hospiz und dessen Spenden finanziert. Aber wer sich mit dem Betrieb eines Hospizes auskennt, wird wissen, diese werden nur zu einem Teil von den Krankenkassen finanziert – einen Teil der Ausgaben muss über Spenden ergänzt werden. Bei der Kindertrauergruppe ist das der größte Anteil. So ist in den letzten Jahren auch von den Gründerinnen und ihren Teammitgliedern einiges mit Eigenleistungen ermöglicht worden für die Kinder.
Im letzten Herbst hat sich das Team einen sehr großen Herzenswunsch erfüllt – aufgrund der sehr schönen Erfahrungen, die sie in dem besonderen Umfeld mit den Pferden bei fast allen Kindern machen konnten: Sie haben für diese Trauergruppe ein Pony gekauft! Ein Teil auf Spendenbasis finanziert, den anderen Teil privat selber bezahlt.
Hier ist sie: Crumble, Kosename Crumble Bee, eine bildhübsche helle (im Fell und Hirn) Ponydame, drei Jahre alt und gar nicht mal soooo klein für ein Pony.
Sie befindet sich nun auch auf o. g. Gestüt und wird dort gerade zum „echten” Pferd ausgebildet. Das heißt, altersbedingt gilt sie jetzt als pubertär und muss lernen, wie auch ein Hund, sich ordentlich zu verhalten und Befehle zu verstehen und bestenfalls zu befolgen. Sie soll später auch von den Kids geritten werden können.
All das kostet Geld – auch wenn die Trainerin der Kindertrauergruppe hierbei sehr entgegenkommt, wie übrigens auch die Leitung dieses Gestütes bei der Unterbringung.
Auch sonst ist so ein Pony natürlich ein kleiner Kostenfaktor, einen Teil der monatlichen Kosten tragen beide Frauen privat. Aber mit der Ausbildung, der Unterbringung, Tierarztkosten, Futter und Versicherungsgebühren müssen ca. 900 Euro jeden Monat aufgewendet werden. Das ist jeden Cent wert, denn was ganz wundervoll ist: Die Kinder lieben dieses Pony jetzt schon heiß und innig! Und man kann sagen: Crumble wirkt schon im Guten!

Neulich habe ich Crumble besucht. Bin ja selber nicht so der Pferdefan, ich finde Pferde wunderschön – ganz besonders, wenn sie mir nicht zu nahe kommen. Ich habe riesigen Respekt vor ihnen. Wie man ihn vor Tieren hat, deren Umgang man nie gelernt hat.

Aber Crumble hatte es mir so einfach gemacht, wir können sagen, sie hat mich so dermaßen mit links um ihre Hufe gewickelt. Sie ist ein irrsinnig charmantes Pony! Lustig. Zieht sehr lustige Gesichter! Hat unfassbar hübsche Beine. Und sie ist immer für eine gute Mohrrübe zu haben (so etwas schätze ich ja sehr). Kann offensichtlich sehr gut mit Menschen und bringt sie zum lachen. Und – wenn sie dann Vertrauen gefunden hat – kann sie sehr liebevoll sein. Crumble – muss man sagen – ist für ihre Aufgabe als Therapiepony geboren, ein wirkliches Geschenk.
Dieses Pony ist einfach eine coole Socke!

Und wenn es mich schon so verzaubert und mich in der Zeit mit ihr richtig happy macht – wie muss es wohl erst auf die Kids wirken, die oft nicht viel Unbeschwertheit im Alltag haben in ihrer besonderen Lebenssituation?
Ja, völlig korrekt und sehr gut erkannt – ich habe das alles heruntergeschrieben, weil ich euer Geld möchte. Für dieses Projekt! Bitte spendet! Für die Kindertrauergruppe – oder direkt für Crumble. Jede noch so kleine Summe ist hier sinnvoll angewendet. Jeder kleine oder größere regelmäßige Dauerauftrag kann hier ganz viel Druck von dem Team nehmen und ihre gute Arbeit mit den Kids machen lassen. Davon abgesehen, dass man den Kindern sagen kann, da draußen sind Menschen, die denken an euch und unterstützen euch!
Ihr helft auch, wenn ihr vielleicht eure Chef*innen ansprecht – oder die zuständigen Kolleg*innen in euren Unternehmen, die für Spenden zuständig sind?

Und wenn ihr diesen Blogpost hinaus in die große weite Welt des Internets tragen könntet oder anders auf Crumble und die fantastische Arbeit von Katrin und Birgit und den anderen tollen Menschen in diesem Team aufmerksam machen könntet: mein allerherzlichstes Dankeschön dafür! Denn auch ein Link kann so viel unterstützen. Viel Aufmerksamkeit hilft hier einfach viel!
Es ist für eine so gute Sache. Crumble und die Trauerarbeit von allen dort tragen so viel Sonne in einen Alltag der Kinder, der für sie gerade verständlicherweise sehr dunkel ist.

Offizieller Flyer Trauertherapiepferd Crumble

Offizieller Flyer Kindertrauergruppe

2023-09-12

Abschiednahme

Aus gegebenem Anlass einige Informationen zum Sterben.

Verstorbene dürfen in Berlin bis zu 36 Stunden (in Brandenburg 24 Stunden, das ist in den Bundesländern etwas unterschiedlich geregelt) nach dem Tod aufgebahrt werden. Zu Hause und auch im Krankenhaus. Das heißt, solange muss euch auch das Krankenhaus die Möglichkeit geben, Abschied nehmen zu können vom Verstorbenen – und zwar ohne Aktion eines Bestattungsinstitutes. Das weiß manchmal selbst das Pflegepersonal nicht (oder soll es nicht kommunizieren) – Ihr wisst das jetzt!

Das funktioniert natürlich nicht die 36 Stunden in dem Krankenzimmer, in dem der Patient verstorben ist. Aber selbst auf den Intensivstationen gibt es üblicherweise einen Raum, wo man in Ruhe rausgenommen aus dem Klinikbetrieb Abschied nehmen kann. Kurze Zeit nach dem Tod wird das Pflegepersonal natürlich versuchen, dass man das in dem aus den Krankenbesuchen bekannten Zimmer tun kann. (ITS ist immer eine andere Hausnummer.)

In unserem Fall (mein Nachbar ist Freitag um die Mittagszeit verstorben) haben sie es ermöglicht, dass man bis zum Abend gegen 20:00 Uhr ihn noch im Zimmer hätte sehen und Abschied nehmen können. Der größte Teil der Familie traf am Nachmittag dort ein.

Üblicherweise haben Krankenhäuser hierfür einen Aufbahrungsraum, Krankenhäuser mit religiösem Ursprung sowieso immer eine Kapelle. Die sind dann meist in Nähe der Pathologie, wo Verstorbene bis zur Abholung durch den Bestatter in der Kühlung aufbewahrt werden. Aber es gibt sie, in Berlin ist es den Krankenhäusern gesetzlich vorgegeben, einen solchen Raum zu haben, wo man würdevoll Adieu und Danke! sagen kann. Und ja, da muss man ggfs. Zeitabsprachen treffen – diesen Raum muss man sich möglicherweise mit den Hinterbliebenen anderer Verstorbener teilen. Aber bis zu 36 Stunden nach dem Tod muss euch – in Berlin – jedes Krankenhaus die Möglichkeit dazu geben, Abschied nehmen zu dürfen.

Ganz ohne an die Bestatter zu verweisen.

Das heißt übrigens auch – dazu benötigt man dann natürlich einen Bestatter – dass man den geliebten Menschen für diese Zeit nochmals nach Hause holen kann und dort in der vertrauten Umgebung sich die Familie und Freunde verabschieden können. Auch das darf man tun. (Leider sind im Förderalismus die Bestattungsgesetze in den einzelnen Bundesländern immer noch ungleich. Aber es geht viel.) Es passiert auch da nichts mit dem Verstorbenen, sie können auf Kühldecken gelagert werden (Bestatter) bei längerer Aufbewahrung.

Gerade bei verstorbenen Kindern kann es für die verwaisten Eltern sehr wichtig sein, das Kind noch einmal im eigenen Kinderzimmer und Bett zu sehen bzw. bei sich zu haben. Und das geht!

Zurück zum Tod im Krankenhaus: Es gibt übrigens genau gar keine Eile sofort einen Bestatter beauftragen zu müssen. Zu Hause muss ein Arzt zuerst den Tod feststellen, bevor Bestatter tätig werden. Gleiches gilt auch für das Krankenhaus. Hier liegt der Verstorbene in der Kühlung, da passiert nichts mit dem Körper. Auch in Krankenhäusern muss es eine Leichenschau geben und der Totenschein ausgestellt werden. Wie wir dieses Mal lernten (Todesfall am Freitag) hat dieser Teil der Verwaltung eh am Wochenende frei. Also keine Eile schon aufgrund bürokratischer Verfügbarkeit und Prozesse.

Nehmt euch die Zeit, Abschied zu nehmen und hinsichtlich der Beerdigungen und Trauerfeierlichkeiten in Ruhe Ideen zu überlegen, die euren Wünschen entsprechen – oder denen des Verstorbenen, so sie bekannt sind. Es ist übrigens auch nicht pietätlos hinsichtlich der Beerdigung Preise zu vergleichen. Es gibt Preisunterschiede. Natürlich kann man auch für Beerdigungen viel Geld ausgehen, wenn es da ist und wenn man es möchte. Aber niemand muss sich unter zeitlichen Druck setzen lassen – auch beim Tod gilt es marktwirtschaftliche Möglichkeiten für sich auszuloten.

Gerade bei unerwarteten Todesfällen ist es sehr hilfreich erst einmal in sich hinein zu hören, was man für den Verstorbenen sich wünscht. Und für sich. Klar kommen auf die neue Situation. Man möchte aktiv werden, um dem Schock der Nachricht zu begegnen. Aber auch einige Nächte darüber zu schlafen und sich auf die neue traurige Situation in Ruhe einlassen, ist absolut erlaubt. Diese Zeit hat jeder. Sie kann euch niemand nehmen! Es gibt keinen Grund, sich Druck machen zu lassen. Weder vom Krankenhaus noch von Verwandten.

Es ist auch völlig in Ordnung, nach dem ersten Telefonat oder dem Gespräch vor Ort – wenn es nicht passt, dem Gefühl nach – aufzustehen und zu gehen, sich einen anderen Bestatter zu suchen. Das darf man tun. Noch einmal, der/die Verstorbene liegt vermutlich im Krankenhaus in der Kühlung (oder in der Gerichtsmedizin) – also hört auf euer Bauchgefühl.

Gut Abschied nehmen zu dürfen, ist im aktuellen und späteren Trauerprozess wahnsinnig viel wert! Und stellt Fragen, äußert eure Wünsche. Oft geht viel mehr als man vermutet in einem solchen traurigen Fall.

2023-09-07

Kleiner Tipp am Rande …

… wenn ihr oder Familienangehörige, Freunde einmal eine Diagnose erhaltet, die auf das Leben sich sicher begrenzend auswirkt, dann guckt euch frühzeitig Hospize in eurer Gegend an und lasst euch frühzeitig dort auf die Warteliste setzen.

Das kann man über mehrere Jahre hinweg tun und sich immer wieder auch nach hinten schieben lassen – aber in dem Moment in dem es dringlich wird, ist man ziemlich sicher dabei. Und das ist bei der aktuellen gesundheitlichen Versorgung nicht die verkehrteste Maßnahme.

Übrigens stirbt man nicht immer sofort in einem Hospiz. Oft kann man nach einer Krise – weil man dort intensiver gepflegt werden kann als im Krankenhaus derzeit – wieder in die heimische Umgebung und ggfs. dort mit einer Heimhospizpflege lange Zeit gut betreut werden – auch dort sterben.

Aber man sollte einen Fuß drinnen haben. Wenn man das Thema erst im letzten Moment angeht, was auch logisch ist, weil man damit beschäftigt ist um jeden Tag zu kämpfen, wird es viel schwieriger.

Übrigens: Was ich dieser Tage gelernt habe, man muss nicht in einem Hospiz im eigenen Wohnbezirk bzw. Stadt sich anmelden. Möchte man z. B. zurück in die Heimat, weil dort die Familie lebt, die mitversorgen kann oder man viel lieber z. B. am Meer gehen möchte, dann ist eine Anmeldung auch außerhalb des eigenen Wohngebietes möglich. Nur der Transport muss dann im Zweifelsfall noch privat organisiert werden können.

2022-12-15

Wie stirbt man in Zeiten eines Pflegenotstands?

Ich habe gestern mit der Freundin telefoniert. In dem Hospitz in dem sie arbeitet ist zur Zeit nur 50 % Belegung (ist nicht so als hätten die nicht auch bei 100 % Einsatzmöglichkeit enorm lange Wartelisten) der sonstigen Belegung möglich.

50 % deshalb, weil ein großer Teil des Personals krank ist. Das hat mich gestern dann doch schockiert. Denkt darüber nach, was das für die Paliativpatienten heißt, die dann halt jetzt in die endliche Phase ihres Lebens treten.

Wo werden sie sterben? Wie werden sie sterben?

Sterben ist zeitlich selten verhandelbar. Es ist nicht so als würden die Krankenhäuser derzeit auch alle Betten bedienen können, die sie vorrätig halten. Ist Pflegepersonal nicht ausreichend verfügbar, stirbt man auch u. U. im Krankenhaus schlecht versorgt. Und verfügbares Pflegepersonal wird derzeit an die Pädiatrie weiter gereicht, wenn nur möglich. Und die Situation in der häuslichen Palliativpflege ist kein bisschen besser. Leider. Sie war auch immer schon hart am Limit – als meine Freundin S. vor Jahren zu Hause sterben wollte (und konnte) hatte schon die Pflege Dienst bei ihr in der Freizeit erwiesen.

Lasst euch bitte wenigstens gegen Grippe impfen, auch die Kinder – und auch wenn ihr nicht zur ausgewiesenen Risikogruppe gehört. Schützt die Pflege durch Minimierung von Erkrankung, wo es nur geht. Meine Hausärztin sprach gestern von Infektionszahlen, die das harte Grippejahr 2017/18 noch übertreffen könnten.

Es ist jetzt vielleicht auch nicht die Zeit sich auf Weihnachtsfeiern, in Clubs oder auch so nur zum Spaß mit Alkohol, Drogen so abzuschießen, dass der Notarzt kommen muss. Vermeidet Erkrankungen, wenn ihr es könnt. Vielleicht weniger Verkehrsregeln missachten. Begreifen, dass man auf dem Fahrrad doch sterblich ist. Solche Dinge. Wir können in der jetzigen Zeit das System durchaus entlasten.

2022-09-08

Bye bye Lizzy!

Das hast Du wieder geschickt eingefädelt.

Am Dienstag noch über beide Wangen gestrahlt als Du diesen verlogenen Lump Boris Johnson offiziell in die ewigen politischen Jagdgründe entsandt hattest und ihm gezeigt hast, wo der schottische Maurer das Loch gelassen hatte.

Mittwoch irgendeiner Zoom-Konferenz noch den Stinkefinger gezeigt.

Heute hast Du die Handtasche ein letztes Mal von rechts auf links gehängt. Und hast dich aufgemacht, die Lücke, die Philipps Tod in dein Leben gerissen hatte, wieder zu schließen.

Ich hoffe, Dich umgibt verdiente Ruhe! Nach diesem Leben. Was für ein Leben!

Ich bedanke mich für den Spaß, den ich mein Leben lang mit dir hatte. Den Zunder und den Zauber, das Altmodische, das Humorige, diese lustigen Hunde, diese urkomischen Bilder von dir als älterer Dame auf deinen Pferden, die Hüte, die farbenfrohen Kostüme – das sehr sehr sehr großartige Kostüm in Blau und in Gelb im Brexit-Leave-Jahr.

Diese Contenance – sie wird mir immer unvergessen bleiben!

2020-01-31

„Deutschlands …

… beste Jung-Bestatterin*.”

Wettkampf im Bestattungswesen. So wichtig!



*TV-Bericht

2019-11-05

Die rote Box



Die rote Box stand hier die letzten Jahre immer irgendwo in der Wohnung herum, nachdem sie zuvor schon in der alten Wohnung immer irgendwo herum stand. Und ich kann sie getrost meinen persönlichen Pain in the Ass-Moment nennen. Die rote Box enthält nämlich, wenn auch grob geordnet, nicht wirklich sortiert Altlasten aus früheren Jahren.

Explizit und vorrangig heißt das persönliche Hinterlassenschaften meiner Mum, Telefonbücher, diverse Kalender, ein zwei Lederportemonnaies, Kalender und … Kalender. Hässliche Korrespondenz mit Unternehmen zwangsweise geführt nach ihrem Ableben. Bestattungsunterlagen. Kondolenzkorrespondenz. Einiges ihrer Privatkorrespondenz. Die Kontoauszüge der letzten Jahre usw.

Daneben letzte Rechnungen aus meiner Selbstständigkeit. Sammelsurium.

Etwas was man also mitschleppt. Von dem man weiß: den größten Anteil davon will man nicht, braucht man nicht, mag man nicht. Und irgendwie denkt man doch, vielleicht liest man das doch noch einmal. Begibt sich zurück. Kann das aushalten, irgendwann. Ich schreibe insbesondere von ihren Kalendereintragungen.

Da ich in der letzten Woche einige Dinge aus meiner Wohnung mutig und sauber dem Speermüll übereignet hatte, Stoffreste von denen ich weiß, die werde ich nie vernähen und gar nicht weiß, wie sie jemals in meinen Besitz gelangen konnten, einem guten Zweck zugeführt habe, x-viele Katzenkuschelkissen diese Woche der Tier-Tafel-Sammelstelle im Kiez vorbei bringen werde, bin ich gerade im Sortier-Flow. Ganz ohne Marie K-Dingsda oder Ratgeber-Phänomene.

Der Kram muss weg und in irgendeinem Anflug von Mut, Lösungsprozessen, Altlastenentsorgung habe ich mich heute an die rote Box gewagt. Einiges wie die Kondolenz-Post mit den Beerdigungsunterlagen hebe ich noch auf. Menschen, die über meine Mum liebevoll schreiben, das ist so schlecht ja nicht. Aber die anderen Dinge von ihr, die habe ich heute größtenteils ziehen lassen. Schlussendlich interessieren mich ihre Kontoauszüge nun nicht mehr und da wird auch behördlicherseits nichts mehr nachkommen, hässliche Post aus der Zeit ihres Todes brauche ich nicht – und die Einträge in ihren Kalendern beschäftigen sich vorrangig damit, wann sie bei welchem Arzt sie war, dass sie natürlich auch einsam war, ich nie oft genug angerufen habe. Jedes Mal, das sie mich angerufen hatte und ich damals nicht zu Hause war, wurde in dem Kalender vermerkt. Das hat mir nachträglich sehr die Brust zugeschnürt heute, das war teilweise alles nicht gesund. Das wusste ich schon damals und mich dem zu entziehen (müssen). das hat uns beiden viel Schmerz bereitet. Von ihrem Schmerz so plakativ zu lesen, das tut heute noch weh – auch wenn das wirklich ihr Ding war.

Schlussendlich wollte ich nicht von ihrer Liebe zum Kranksein bzw. sich darüber Liebe von anderen zu erzwingen, eingefangen werden. Bei aller Liebe zu ihr war vieles damals wahnsinnig schwer auszuhalten und ja, manchmal bin ich froh, dem mit ihrem Tod in den letzten Jahren auch entkommen zu sein. Es hatte mir schon von Kindheit an viel zu viel Energie gezogen.

Weg. Die letzten zwei Kalender hebe ich noch auf. Falls ich mich doch noch mal selber quälen will, irgendwann einmal. Oder mich daran erinnern möchte, warum ich Dinge, die ich tat, die mir natürlich heute leid tun, dennoch aus den sehr richtigen Gründen getan habe.

Alle Unterlagen, die sehr stark reduziert noch übrig sind, gehen morgen in dieser Box in den Keller. Ich werde allerdings dafür eine neue Box kaufen. Diese rote Box kann ich nicht mehr ertragen.

Es fühlt sich ganz gut an. Ich habe bis eben nur einmal daran gedacht die Kalender doch wieder aus dem Müll zu holen. Und es nicht getan.

In der Box sind auch viele Briefe, die ihre letzte Lebenspartnerin an sie geschrieben hatte. Briefe, die ich nicht lesen möchte, denn sie sind privat und schlussendlich, vermute ich, ist diese Frau noch am Leben. Ich hatte sie damals gefragt, ob sie die Briefe würde haben wollen, was sie verneinte. Aber weg tun konnte ich sie auch nicht.

Tsja, was macht man mit Briefen von Menschen an Menschen, die nicht mehr sind? Es ist nicht mein Ballast. Aber es sind immerhin Briefe eines Menschen an meine Mutter, die sie geliebt hatte damals.

2019-09-12

Der Nachbar gegenüber …

… der immer so freundlich und fröhlich war, den quält nun schon sichtlich seit einiger Zeit eine schwere Erkrankung. Der Hairless-Symdrom nach vermutlich etwas von einer Chemotherapie begleitend.

Selten haben wir ihn gesehen in den letzten Monaten. Ab und zu ist er mit der Gehhilfe vor das Haus getreten, Luft atmen. Dann ist er wieder zurück gegangen. Der frühere Bauch geschrumpft. Ganz dünn geworden. Richtige – sehr seltene – Ausgänge nur noch im Rollstuhl gemeinsam mit seiner Frau und dem Krankentransport.

Heute hat ihn der Krankentransport abgeholt, erstmals liegend. Also die Treppe sitzend herunter getragen – aber dann vor dem Haus auf die Liege gelegt. Eine gepackte Tasche dabei. Keine kurze Arztvisite. Seine Frau ganz blass. Und so wie er sich in seinem, unserem Hof umgesehen hatte auf der Trage, sichtlich in dem Bewusstsein, dass er diesen womöglich nie mehr wiedersehen wird.

Da bricht die Stimmung. Da hilft auch kein Sonnenschein.

2019-07-31

Worte für Sophie

… von Kaltmamsell. Elemente einer Tragödie.

2019-07-28

Sophie Hingst †

Marie Sophie Hingst ist tot.

Und mutmaßlich hat sie sich selbst dazu entschieden, zu gehen.

Sophie Hingst hat unter dem Pseudonym Fräulein Read On auf ihrem Blog „Read On, My Dear” Texte verfasst. Öffentlich, das hatte Ende Mai der Autor Martin Doerry in einem langen Artikel im Spiegel aufgedeckt, waren zumindest alle Geschichten über ihre jüdische Familie und Großmutter und Arbeit in einem inidschen Slum und einiges mehr erfunden. Ihr großes Versäumnis: sie hatte diese Texte nie als Fiktion gekennzeichnet. Sie konnte wohl auch viele andere Texte, das haben die Recherchen ergeben, gar nicht so selbst erlebt haben, weil sie so in der von ihr beschriebenen Art nicht an Orten bzw. Unternehmungen gewesen war.

Das ist verwerflich. Es ist nicht verwerflich, solche Texte zu verfassen und zu veröffentlichen. Aber man muss sie als erfunden klar kennzeichnen. Das hatte Sophie nicht getan und uns somit im Glauben gelassen, ihr Blog handelt ausschließlich von ihrer gelebten Realität.

Dass sie sich nun hierbei eine Realität als Enkeltochter einer jüdischen Großmutter geschrieben hatte, machte den Skandal um ein Vielfaches größer. Die Geschichte der Deutschen mit dem Judentum ist zu groß, zu furchtbar, viel zu komplex in ihrer Abartigkeit, wie wir Deutschen mit Juden umgegangen sind, als dass wir darüber falsche Geschichte schreiben dürfen. Nicht, wenn wir sorgsam mit der Herkunft umgehen.

Sophie Hingst war Historikerin. Als solche wusste sie natürlich viel über Geschichte. Und sie muss um die Regeln von Veröffentlichungen Bescheid gewusst haben.

Sophie Hingst war hochintelligent. Das schreibe ich ohne sie persönlich getroffen zu haben. Und ihre Texte haben sowieso zu keiner Zeit Zweifel an ihrem Intellekt hinterlassen.

Sophie Hingst war liebenswert. Sehr – das hatte ihren großen Erfolg als Bloggerin ausgemacht. Ich habe Sophies Blog nicht von Anfang an gelesen, irgendwie bin ich an ihrem Radar vorbei gesegelt – wenngleich mir immer mal wieder Texte von ihr begegnet sind. Dies geschah zu einer Zeit in der ich aus persönlichen Gründen keine weiteren Blogs an mich heran lassen konnte. Sophie ist mir erstmals bewusst aufgefallen, als sich meine halbe Timeline wie Bolle freute, weil Fräulein Read On endlich unter dem Twitteraccount @MlleReadOn einen nächsten Schritt in diesen Teil der Online-Welt unternahm. Das war vergleichsweise sehr spät, erst 2016. Sophie hatte nämlich viel weniger die Öffentlichkeit gesucht, als ihr heute von Menschen, denen sie bis zum Skandal gar nicht bekannt war, unterstellt wird.

Zwei Mal hätten wir uns in Berlin beinahe getroffen, einmal konnte ich nicht – bei einem Gartenpflegenotruf einer uns bekannten Twitterin, die frisch entbunden Menschen brauchte, die ihr halfen – ich war nicht da. Sophie Hingst war dort! Das andere Mal waren wir mit mehreren Bloggern in einer Gaststätte verabredet, da musste sie ihren Berlinbesuch früher abbrechen und wir haben uns alleine getroffen. Die anwesenden Blogger, die sie schon persönlich kannten und freundschaftlich mit ihr verbunden waren, haben voller Zuneigung über Sophie gesprochen.

Sophie Hingst war höflich. Es mag sie geben, nur ich habe auf Twitter keinen anderen Menschen erlebt, der so höflich, umsichtig, liebevoll, wortreich postete, antwortete – sehr aufmerksam mit ihren Followern kommunizierte. Wenige Twitterer können sich heute noch – wie früher unter uns Bloggern üblich – sich offen über die guten, wichtigen Texte anderer Blogger freuen. Sophie konnte das sehr gut.

Sophie Hingst war unfassbar talentiert. Und begreift dies bitte mit als Kernaussage zu Sophie, denn das ist die größte Tragik in der Sache. Die Texte von Sophie waren großartig. Ich bin kein Mensch, der schnell weint – aber wie oft habe ich vor Sophies Texten gesessen und hatte Tränen in den Augen? So oft wie bei keinem anderen Blog. Sophie hatte ein wundervolles Talent, Worte zu finden und zu vereinen, sie konnte Gerüste zu bauen, Erleben beschreiben, uns Leser mitnehmen, führen, uns Welten erleben lassen, reisen, leiden, lieben, sich schämen, verweilen, loszulassen, aufbauen. Sophies Schreibtalent war eines der Größten, die ich in der deutschsprachigen Blogwelt erlebt habe. Es gab kaum ein Text von ihr, der nicht etwas in mir ausgelöst hatte.

Diese wundervollen Texte hatten später leider, wie sich Ende Mai 2019 zeigen sollte, einen Makel: Sie suggerierten ein Erleben, das so nicht stattgefunden haben wird. Oder doch. Teilweise. Vielleicht. Wir werden es nun nie erfahren.

Und das ist für mich mein großes Debakel, das ich in der Sache habe. Denn gerade mit ihren Texten zum Judentum, zu dem was sie über ihre vermeintliche jüdische Großmutter und ihrem Erleben, dem dieser vielen Menschen, die zwar real existiert hatten, jedoch nie in dem von ihr konstruierten Umfeld, denen sie Geschichten angedichtet hatte, die vielleicht trotzdem womöglich wahr (und recherchiert von ihr) waren, hat sie so viel Bewusstsein geschaffen für eine Zeit voller Grauen, die wir so nie wieder geschehen lassen dürfen, was verdammt noch einmal unser Vermächtnis ist. In einer Zeit, dem Heute, in der wir leider darin offensichtlich versagen. Und ich frage mich, ist das hier offensichtlich Falsche wirklich so falsch gewesen? In Sophies Bemühen? Ja, jeder hat Recht in den Vorwürfen ihr gegenüber gerade bei diesem Thema.

Diese ihre Texte waren falsch. Und dennoch so wichtig.

Vergessen wir bitte nicht „Kunstgeschichte als Brotbelag” – Sophies wundervolle Idee uns auf Twitter Kunst auf die Stulle zu bringen und dort nachzubilden. Ja, das hat Sophie nämlich auch getan: uns ganz viel Freude miteinander an unserem gemeinsamen Tun geschenkt!

Nachdem Ende Mai der Skandal Sophie Hingst durch die Twitter- und restlich Online-Welt schoss, sie sich auf ihre Art versuchte auf ihrem Twitter-Aaccount zu erklären, dem was kommen sollte zu entziehen (was ich übrigens für eine nachvollziehbare menschliche Reaktion halte), sich die Online-Redaktionen, die ganz wenige Texte von ihr eingekauft hatten, von ihr offiziell zurück gezogen haben und ihre Texte vom Netz nahmen, hatte Sophie ihr Blog stillgelegt und ihr – das wissen wir heute – Vermächtnis vor der Öffentlichkeit verborgen.

Mich ärgern übrigens gerade diese Leute auf Twitter sehr, die sich an Sophies Tun, einer nun viel zu jung gestorbenen Sophie, abarbeiten und ihr große finanzielle Verdienste mit ihren erfundenen Texten im Blog unterstellen. Sehr wahrscheinlich hat Sophie mit einigen ihrer Texte Geld verdient, ob sie davon jemals ihr Leben hätte wirklich bestreiten können, das ist dahin gestellt. Und selbst „Kunstgeschichte als Brotbelag” – wie viel Exemplare hatte überhaupt die erste Auflage? 1.000? Da wird man natürlich total reich mit! Und wer diesbezüglich hinsichtlich Sophie keine Ahnung hat, haben kann, können bitte diejenigen bitte jetzt in der heutigen unfassbaren traurigen Realität die Griffel still halten?

Ich war verwirrt als ich damals zeitgleich mit dem Posten ihrer Tweets diese auf Twitter las, kommunizierte in ihre Richtung meinen Willen ihr zur Seite zu stehen – etwas anderes ging erst einmal nicht, denn auch ich musste mich sortieren im Rahmen des neuen Sachverhaltes. Darauf gab es ihrerseits keine Reaktion. Für mich nicht verwunderlich, wir waren uns, wie gesagt, nie persönlich begegnet, sicherlich immer wohl gesonnen – in einer solchen Situation, die für sie sehr schrecklich gewesen sein muss – braucht man enge Freunde für sich. Und viel Ruhe.

Und dennoch: irgendwie war ich gar nicht erstaunt zu erfahren, dass viele ihrer Texte offensichtlich fiktiv waren. Da ich ihr Blog nicht von Anfang an gelesen hatte, fehlte mir zu vielen Fortführungen der Zugang und fehlte mir auch die Information dazu, ob es je dazu Erklärung von ihr gegeben hatte (ich bin selten Blog-Nachleserin) ob manche Textstränge fiktiver Natur waren. Für mich war immer instinktiv klar, da passiert viel zu viel in ihrem viel zu jungen (also kurzem) Leben als das alles so stimmen konnte. War mir aber egal, wie gesagt, ich hatte viele Texte als wunderschön gelesen – aber auch erfunden teilweise. Es gab da in mir eine Sortierung.

Das mag daran liegen, weil ich mit einem Bruder groß geworden bin, der seit ich denken kann, Geschichten erzählt hatte. Unfassbare Geschichten, unhaltbare Geschichten, märchenhafte Geschichten – unglaubliche Geschichten. Für sein Umfeld. Das Problem nur: er hat diese Geschichten geglaubt. Wirklich inständig geglaubt. Der hat die für sich erlebt. Und der ist sehr rabiat geworden, wenn man ihm unterstellte, diese erfunden zu haben. Und er hatte erstaunliche Energien (vor allem im späteren Leben) darauf gesetzt, Menschen manipuliert, um seine Geschichten anderen gegenüber als real darstellen zu können.

Das ist medizinisch ein sehr spannendes Thema. Ist man persönlich als Verwandter, Partner, Freund betroffen, macht es einen wahnsinnig. Und irgendwann macht es einem sehr schwer diesen Menschen, der krank ist, noch zu lieben. Und: zu vertrauen. Diese Krankheit nennt man Pseudologia Phantastica. Sie wird im Katalog der ICD unter dem Code 10: F68.1 als artifizielle Störung (gleichsam wie das Münchhausen Syndrom bzw. Münchhausen Syndrom-by-proxy) geführt. Jemand hat das krankhafte Verlangen zu lügen. Es gibt hierfür eine Ursache – die unterscheidet den Kranken von dem bewusst (boshaft) Lügenden.

Der Pschyrembel definiert die Krankheit so: Erzählen ausgedachter Erlebnisse als wahre Begebenheiten, wobei der unwahre Gehalt vom Erzählenden in der Regel nicht mehr realisiert wird (im Gegensatz zur beabsichtigten Lüge). Vorkommen: vor allem in Folge von Abwehr bzw. Kompensation eines Selbstwert-Mangels, seltener aus übertriebener Phantasie und starkem Geltungsbedürfnis, z. B. beim Münchhausen-Syndrom. Auch bei neuro-psychiatrischen Störungen wie dem Korsakow-Syndrom als chronischer Folgezustand einer nicht erfolgreich behandelten Wernicke-Encephalopathie.

Das ist fürchterlich tragisch. Der Kranke versucht mit dem Erfinden eines absurden Lebensalltages Geltung und Anerkennung zu gewinnen, die ihm meist als Kind versagt wurde. Diese Lügen verbleiben ganz oft nicht im Wort sondern wechseln auch hinüber in ein Handeln. Und das ist dieser Unterschied zur normalen absichtlichen Lüge. Diese Patienten lügen nicht bewusst, die glauben das, was sie erzählen. Sie würden worauf – auf was auch immer – schwören, dass sie das so erlebt haben. Bei meinem Bruder ist der Ursprung klar: es gab einen Vater, der seinem Erstgeborenen vom Tag seiner Geburt vorgeworfen hatte, sein Leben verdorben zu haben. Wenn mein Bruder Aufmerksamkeit von ihm bekam, dann nur über Prügel.

Ich werde nicht behaupten, dass Sophie dieser Erkrankung hatte. Ihre Mutter deutete an, dass Sophie in mehreren Welten lebte, was immer es bedeuten mag. Ich möchte nur einmal darauf hinweisen, dass es eine Krankheit gibt, die Menschen zwingt Geschichten zu erfinden, die sie zu ihren gelebten Geschichten machen, was wiederum diese Geschichten zu Lügen werden lässt – und dass diese Menschen für ihr Verhalten nicht können, weil sie damit einen täglich zu spürenden Missstand kompensieren müssen. Mit Betonung: MÜSSEN! Mit einer unglaublich Präzision. Sie gehören in eine gute Psychotherapie.

Diese Krankheit hat grauenvolle Folgen für den Betroffenen und sein Umfeld. Da werden Kartenhäuser gebaut, die irgendwann zusammen brechen. Dem Patienten – der wahnsinnig liebenswert sein kann in seiner Krankheit – bleibt nur die Flucht in ein anderes soziales Umfeld, das betroffene alte Umfeld bleibt sehr ratlos zurück. Einerseits, weil man dem Menschen vertraut hatte und ihm so vieles geglaubt hatte und andererseits, weil man sich fürchterlich betrogen und manipuliert fühlt und sich selbst hinterfragen muss.

Mein Bruder, Maler und Lackierer, im Auftreten durchaus als Prolet zu benennen, körperlich (zumindest für mich) nicht so der Adonis, dank Bier, Currywurst & Co., hatte übrigens immer die traumhaftesten Frauen, ganz oft mit akademischen Abschlüssen, als Freundinnen – die ihm lange Zeit alles geglaubt haben, was er ihnen erzählte – und vor allem über lange Zeit hingenommen haben von ihm belogen zu werden. Nur um diese Komplexität der Krankheit zu verdeutlichen! Das ist eine sehr fiese Geschichte. Für alle Beteiligten.

Und ich, für meinen Teil – mit eben meiner persönlichen Historie mit meinem Bruder – fühlte mich bei der Sophies fremdgesteuerten Coming Out als Geschichtenerzählerin sofort wie zu Hause, für mich ist das ein Stück weit Normalität.

Nochmal: ich kann und werde nicht behaupten, dass Sophie diese Erkrankung oder überhaupt psychisch krank war, das kann ich gar nicht beurteilen.

Nur ich versuche mir (!) zu erklären, warum ich persönlich für mich gar nicht so entsetzt war als die Wahrheit über ihre nicht realen Texte heraus kam. Ihre Texte waren für mich immer viel zu besonders, viel zu fantastisch, viel zu reichhaltig auf allen Ebenen, als das ich sie als wahr hingenommen hatte. Bis auf das geschriebene Leben in Irland und dem Tierarzt seinem tragischen Ende, wozu heute natürlich auch enorme Zweifel da sind (ich hab für mich beschlossen, dass sie real war, Sophie soll diese Liebe für sich gelebt haben dürfen egal in welcher ihrer Welten) – instinktiv waren diese für mich erfunden. Ich habe mir da nicht mal bewusst Gedanken darüber gemacht, für mich waren das besonders schöne und besonders kluge Texte. Ob sie wirklich gelebt wurden, war mir herzlich egal.

Sophie Hingst war verletzlich. Als ich Sophie bei den Golden Blogger Awards zum ersten Mal (auf dem Screen) persönlich und lebendig gesehen hatte, war mein erster Gedanke (ich wusste von ihren Ängsten dorthin zu gehen im Vorfeld aus Twitter) „Diese Frau gehört überhaupt nicht in die Öffentlichkeit.” Sie hatte dort als Bloggerin des Jahres 2017 gewonnen. Dieser Preis wurde ihr nach dem Spiegel-Artikel aberkannt.

Sophie Hingst hatte ein riesengroßes Herz. Das sprach nicht nur aus ihren vielen wundervollen Texten und Geschichten. Sophie hatte jeden Tag, nachdem die Verhaftung von Deniz Yücel bekannt geworden war, dem Mann eine Postkarte ins Gefängnis geschrieben – über 360 Tage lang. Diese Aktion war von türkischen Journalisten initiiert worden, Sophie hatte sich daran festgebissen – zugunsten eines ihr unbekannten Menschen! Nachdem die Verhaftung von Mesale Tolu, anfänglich mit ihrem kleinen Sohn, bekannt wurde, schrieb sie dieser dann auch. Das sollten wir ihr nie vergessen! Auch ihre Rede auf der Bühne der Goldenen Blogger Awards war im Sinne dieser Menschen so wichtig und großartig – und vor allem: ganz uneigennützig! Das war Sophie nämlich auch.

Und ich möchte das anmerken, denn bei all den Fehlern, die Sophie nachweislich gemacht hatte mit der mangelhaftn Kennzeichnung ihrer Texte, sie hatte immer im Bewusstsein geschrieben und gesprochen, die Dinge gut machen zu wollen für andere. Das war ihre Mission, auf Dinge aufmerksam zu machen, manchmal mahnend. Aber Sophie wollte uns nie etwas Böses. Und ich möchte, dass wir uns dessen bewusst werden – auch wenn wir verletzt waren oder noch sind – wir haben doch an Sophie geglaubt, sie wertgeschätzt, sie verehrt, weil sie und das so sehr leicht machte, es zu tun. Weil von ihr nie ein böses Wort kam.

Und wir müssen vielleicht begreifen, dass ihre Offenheit uns gegenüber – auch wenn sie heute als Lüge enttarnt wurde – trotz alledem für Sophie die wahre und echte und gelebte Offenheit war.

Was mag es für sie bedeutet haben, dass wir nun daran zweifelten?

Ja, sie hatte die Ursachen für das Zusammenbrechen ihres Kartenhause selber gesetzt. Aber sie war nie von Bosheit angetrieben, das glaube ich keine Sekunde. Und niemand, der ihre Texte – oder sie persönlich – kannte, würde das wohl von ihr behaupten. Deswegen finde ich das Heute ohne Sophie so wenig erträglich. (Und so manche Leute in den Sozialen Medien, die sich nun noch post mortem über sie das Maul zerreißen – ohne sehr wahrscheinlich je einen Text von ihr gelesen zu haben, weil diese gar nicht mehr verfügbar waren – ganz ehrlich unerträglich.)

Sophie Hingst war ein Mensch. Haben ich mich, haben wir uns ihr gegenüber in ihrer persönlichen Krise im guten Sinn menschlich verhalten?

Das frage ich mich seit gestern, wo sich zu unserem Ärger über Sophies Verhalten nun die Trauer über ihre Entscheidung gesellen muss. Ich habe neulich noch sehr lange und instinktiv an Sophie gedacht, weil ich sie vermisst habe – hier in dieser unserer Onlinewelt. Weil mir ihre Texte fehlten, weil mir ihre Schönheit fehlte, ihr Sanftmut, ihr Blick auf die Dinge, ihre Worte. Ich dachte insgeheim bei mir: „Sophie, lass es gut sein. Entschuldige Dich und komm zurück!” Ich habe es nur gedacht, ihr nicht geschrieben. Ich hatte ihre E-Mail-Adresse nicht und habe keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, an sie zu kommen. Das werfe ich mir heute vor. Natürlich.

Womöglich fehlte Sophie zur Entschuldigung die Kraft. Sofern die abschließenden polizeilichen Untersuchungen und die Befürchtung ihrer Mutter sich bewahrheitet, fehlte ihr auch die Kraft weiter zu leben. Das ist tragisch. Vor allem ist das ein ganz großer Verlust für uns alle!

Sophie Hingst war ein ganz besonderer Mensch. Mit einem ganz besonderen Talent. Sie konnte schreiben. Sie hat immer gute, sehr wichtige Texte verfasst. Texte, die ganz tief berühren konnten. Dieses, ihr Vermächtnis ist nun für immer verschwunden.

Mit ihr. Und ich bin fürchterlich traurig über das alles. Sophie Hingst hatte eine wunderschöne und zarte Seele. Wir haben das womöglich zwischenzeitlich vergessen, lasst uns bitte daran wieder erinnern und sie so in Erinnerung behalten.

Und noch etwas, zur Erinnerung, weil wichtiger denn je: "Das Internet ist ein guter Ort, wenn wir es dazu machen." (Johannes Korten)

DAS hat Marie Sophie Hingst viele viele Jahre lang hier in diesem Internet auf ihre ganze eigene Weise getan. Und ich – für mich – werde sie nur daran messen.

(Kommentare aus – aus Gründen.)

2019-07-21

Time goes by

Seit 13 Jahren bin ich nun offiziell Vollwaise. Und es ist faszinierend … wie man immer noch vermissen kann. Wie man viele Dinge heute mit Abstand so ganz anders sieht. Besser versteht, eher nachvollziehen kann. Eigene Fehler einsieht.

Gespräche im Verständnis führen möchte, die man damals nicht führen konnte. Und heute auch nicht mehr.

Was bleibt ist manchmal Unbehagen, wenn ich bei Freunden meines Alters heute noch Belanglosigkeit gegenüber den Eltern erlebe, Unbekümmertheit im Verhalten als würden diese ewig da sein.

Werden sie nicht. Der Schnitt wird kommen und weh tun. Sagt Euren Eltern die guten Dinge, auch die unguten. Es ist wichtig, dass die Dinge klar sind, wenn sie einmal gehen müssen – vor allem auch für die, die bleiben.

2018-10-30

Nishia



… ist heute auf den Tag seit drei Jahren nicht mehr bei mir. In dieser Zeit ist kaum ein Tag vergangen an dem ich nicht an sie gedacht habe, sie vermisst habe. Aber auch das Glück gespürt habe, von diesem kleinen Feenwesen als würdig auserkoren wurde, ihr wichtiger Mensch zu sein. Sie war unglaublich klug, mit Abstand die intelligenteste Katze mit der ich je mein Leben teilen durfte. Sie war so liebevoll allen anderen Tieren gegenüber, vor allem aber zu mir. Sie war pure Leidenschaft in allem. Selbst im Schlaf lag sie voller Leidenschaft und Intensität neben einem. Sie war voller Liebe – und die Liebe pur! Sie war so großherzig, immer lustig, immer anwesend, zärtlich. Eine so wundervolle fürsorgliche Adoptivtochter für Tally. Und um es nochmals zu betonen: so unfassbar klug! Sie fehlt mir sehr und ich bin immer noch nicht über ihre letzte Zeit und unseren Abschied hinweg.

Aber was bleibt ist das mit ihr gewesen zu sein. Voller Liebe!













2018-09-26

Nie stirbste richtig!

Den Nachbarn über die Straße im Hof ist letzte Woche Artos weggestorben. 15 Jahre alt, Jack-Russel-Mix. Sprang seinem Herrchen morgens auf das Bett in den Arm, kuschelte sich ein, leckte ihm über das Gesicht, zuckte drei Mal, quiekte kurz, leckte dem anderen Herrchen, schnell herbei gerufen, auch noch einmal über das Gesicht und war weg.

Was nun wirklich der weltschönste Tod ist, dem Du Deinem Tier und Dir selbst wünschen kannst. Was hätte ich mir so ein Gehen für Tally (und für mich) gewünscht.

Aber auch so mit so einem perfekten kurzen Sterben bleiben nur zwei Menschen zurück, die völlig verstört sind ob der Tatsache nun so plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung verwaist zu sein. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht, denn bei aller Logik über ein gutes Sterben (für den Verstorbenen), es bleiben trotzdem immer Lebewesen übrig, die so oder so bedingt gut damit klar kommen werden, wenn Du so flink und schmerzlos gehen darfst.

Sterben. Unendliche Dimensionen.

Naja, ich hatte Artos die Woche vorher noch gestreichelt. Der olle Stoffel.

2018-08-31

Gedankensprünge

Aretha Franklin wird aufgebahrt in einem farbenfrohen Kleid mit dazu passenden High Heels und man hat ihr lässig die Beine übereinander geschlagen im Sarg. Diese eine Foto geht um die Welt und es gäbe sehr viel dazu zu sagen. Aus Sicht des Respekts vor der Künstlerin, die Sängerin war, weniger Tänzerin. Aus Sicht der Fotografie. Aus Sicht des Anstands. Aus vielerlei Sicht.

Kneife ich mir. Mich hat das Foto auf die Idee gebracht, dass immerhin eine Möglichkeit besteht, dass auch ich versterben werde (sehr sicher!) und eventuell Menschen auf die Idee kommen könnten, mich nach meinem Sterben nochmals ankleiden zu lassen (nicht sehr sicher!). Aber die Idee, man könnte mich mit Schuhen, die ich ein Leben lang nie sonderlich gerne getragen habe, weil ich immer der Typ barfuß war in einen Sarg legen, die behagt mir nicht. Möchte ich an dieser Stelle öffentlich feststellen.

Barfuß. Meinethalben mit roten Fußnägeln. Aber: barfuß bitte!

2018-08-24

Elly

Gestern haben wir Elly gehen lassen müssen. Wir, heißt, neben der Besitzerin, die ganze Nachbarschaft, Kinder, Hunde und Erwachsene.

Elly war eine Boxerhundedame, schon nicht mehr ganz jung, als sie mit ihrem Frauchen in die Wohnung von Norma eingezogen war. Eine sehr freundliche braune Lady, die sich immer sehr freute, wenn sie mich sah und um mich herum tanzte, mich nie ansprang aber immer sehr gerne unvermittelt hochsprang, um mir einen Kuss aufzudrücken wenn ich mich zu ihr niederbeugte. Elly hatte fürchterlich viel Charme.

Nun ja, ich bin quasi mit Boxern aufgewachsen. Dort, wo ich mit meiner Mutter als Kind lebte, hatte der Nachbar gegenüber – unser Hausmeister – zwei Boxerhündinnen. Mutter und Tochter. Später nur noch die Tochter mit dem obligatorischen Boxernamen „Kessie”. Die lag immer (wir wohnten Hochparterre mit mindestens 50 cm breiten Steinfensterbrettern) im offenen Fenster, so dass ich immer einen Hundeansprechpartner hatte, wenn ich nach Hause kam oder ging. Das prägt. Ich bin auf Boxer programmiert. Wenn ich einen Boxer sehe (was leider nur noch sehr selten passiert), pumpt das Herz freudig schneller. Also war meine Freude sehr groß als vor vier Jahren Elly im Nebenhaus einzog.

Und wir sind hier mittlerweile zusammen gewachsen. Gerade Hunde verbinden und es ist unser Ritual hier mit den Kindern und Hunden im Hof gemeinsam zu sitzen. Die Kids wachsen entspannt mit den Hunden als Buddies heran, genauso wie sie immer mal zu uns Katzenbesitzern kommen und ihr frühkindliches Interesse auch an diesen Flauschwesen stillen können. Das finde ich persönlich schön, wenn sich die kleinen Menschen und Tiere aufeinander freuen, die Kinder gleichzeitig auch ungezwungen lernen können, wann ein Tier seine Grenzen aufzeigt. Und natürlich ist es viel schicker, wenn ein Kind das „Wau Wau" oder „Miau” am lebenden Objekt üben kann, denn im Kinderbuch. Das kleine Nachbarmädchen in unserem Haus lernt gerade, dass „Wau Wau” durchaus auch mal Bella oder Miena heißen kann. Oder eben Elly. Bis gestern.

Elly hatte schon vor Monaten neben ihrer sichtlichen Älterwerdung (13,5 Jahre) die Diagnose Tumore in der Leber. Wir wussten also, was auf uns zukommen wird und wir waren alle sehr betrübt. Wir haben Elly viel Liebe gegeben und sie durch die letzten Wochen geknuddelt. Der heiße Sommer machte es der kleinen Schnaufmaschine nicht leichter und Montag zeichnete sich an, dass das Ende sehr nahe sein würde. Sie fing an umzufallen. Sie wollte nichts mehr fressen bzw. nur noch sehr wenig.

Mittwoch wurde kommuniziert, dass es Donnerstag so weit sein würde. Also haben wir alle unsere Antrittsbesuche gemacht, die Elly huldvoll aber doch noch freudig entgegen nahm. Streichler wurden gegeben und Küsse verschenkt. Nun mehr von mir an sie, weil sie nicht mehr konnte. Ich hatte ihrem Frauchen vor Wochen angeboten mitzugehen, wenn es so weit ein würde. Natürlich traute sie sich nun nicht mehr zu fragen und dummerweise war der Termin genau so gesetzt, wenn ich meine wöchentlichen obligatorischen Termine habe.

Ich habe dann eine Nacht darüber geschlafen und beschlossen, wenn sie es denn wollte, den einen Termin abzusagen und mitzugehen. Das klärten wir gestern über den Balkon hinweg am Morgen und so bin ich mitgegangen. Gestern war auch der richtige Tag, Elly konnte sich nicht mehr freuen als ich kam. Der Weg von der Wohnung zum Auto (15 Meter) und vom Parkplatz zum Tierarzt (20 Meter) forderten sie sichtlich. Und während der Tierarzt sich immer noch sträuben wollte, überzeugte ihn dann doch, als sie im Behandlungszimmer etwas Blut aus dem After verlor. Das Organversagen war einfach im vollen Gange.

Knappe 30 Kilo Hund brauchen deutlich mehr Narkosemittel als eine Katze, aber sie ist dann ganz friedlich von vielen Händen an allen Stellen beschmust, an denen sie gerne gestreichelt wurde, eingeschlafen. Liebevoll beweint, intensiv bedankt, viel geküssst und zärtlich auf die Reise geschickt. Und ihr Frauchen war nicht alleine, was man nicht sein sollte, wenn es geht. Und beim späteren Kaffee bei mir hatte sich Shiina wie eine echte Freundin verhalten und sich mit dem frisch verwaisten Frauchen auf die Bank auf meinem Balkon verzogen und sich lange streicheln lassen von ihr. Genau das, was man in so einem traurigen Moment braucht.

Der Rest von uns Nachbarn war gestern traurig.

2017-10-25

Kinder und das Sterben

Dieser Aufruf von Thomas Achenbach in seinem Blogpost „Bitte nehmt auch die Kinder mit … ans Sterbebett, ins Krankenhaus, ins Hospiz!” hat mich wiederum zu diesem Blogpost inspiriert!

Und vor allem deswegen, weil ich das dumme Gefühl habe, dass heutzutage die Kinder – dank dieser Helikopter-Problematik – noch viel mehr vermeintlich beschützt werden von den Eltern in schwierigen Situationen, als es zu meiner Zeit schon üblich war. Wenngleich damals das weniger zum Schutz von uns Kindern diente (in meiner Familie) als überhaupt der Unfähigkeit der Erwachsenen sich der Situation mit dem Sterben und dem Tod zu stellen. Die Kriegsgenerationen unterschiedlicher Dekaden – eine sehr eigene Geschichte.

• Mein Erleben als Kind beim Sterben meines Großvaters. Ich war zehn Jahre alt. Erklärend muss man hinzufügen, dass damals Kinder unter einem bestimmten Alter nicht so einfach in Krankenhäuser zu Besuch durften, schon gar nicht auf Intensivstationen.

Es hieß eines Tages, mein Opa ist sehr krank und so war er von einer Sekunde auf die andere weg – im Krankenhaus. Für sehr lange Zeit. Für das ihn vermissen, das nicht begreifen, was das alles bedeutet, dafür gab es keinen Raum. Alles war plötzlich mit mit Sorge überzogen, man sprach von Zeiten ohne unseren Opa und ich hatte überhaupt keine Ahnung, was mir das sagen sollte und vor allem: wohin mit mir in dieser Zeit. Ich wusste nicht einmal, ob ich fröhlich sein durfte – wenn Opa so krank war und Oma so sorgenvoll und traurig. Das Wort Krebs verstand ich nicht in seiner Bedeutung. Ich hatte bei Oma in der Großküche einmal einen Hummer gesehen, das war für mich ein Krebs meinem Verständnis nach. Irgendwann entließ man meinen Großvater – wohl zum Sterben – noch einmal nach Hause und so stand ich am Bett eines mir gänzlich unbekannten Mannes, den ich in Folge des massiven körperlichen Abbaus gar nicht wieder erkennen konnte. Ein Mann, der mir still zulächelte, völlig entkräftet. Ich durfte nicht lange bei ihm bleiben, schon gar nicht alleine – um ihn zu schonen. (Vermutlich meinten meine Eltern auch mich schonen zu müssen.) Ich hatte gefühlt keine zehn Minuten mehr mit meinem Opa. Gestorben ist er dann kurze Zeit später doch im Krankenhaus – also wieder keine Nähe und kein Erleben. Er war einfach weg.

Mich hat das als Kind sehr traumatisiert, auf zwei Ebenen – dieses Sehen und Erleben meines Opas in diesem Zustand, weil es überhaupt keine Vorbereitung gab. Die es unter diesen Umständen auch gar nicht geben konnte. Aber deswegen bin ich so froh, dass Kinder heute in die Krankenhäuser gehen dürfen und geliebte Menschen beim krank sein begleiten können – nicht für die Kranken, sondern für sie selbst. Es gibt ihnen die Möglichkeit begreifen zu können, Fragen zu stellen, vorbereitet zu sein.

Das zweite Trauma: das Gefühl meinen Opa alleine gelassen zu haben als er krank und sehr hilflos war – denn ein Verantwortungsgefühl ist bei einem Kind in dem Alter schon extrem ausgeprägt. Ich vermisse so sehr heute noch, dass man mich damals nicht einfach zu ihm noch einmal ins Bett und mit ihm kuscheln ließ – und ich mich selbst in meinem eigenen Raum der Zeit an seinen Zustand gewöhnen durfte. Dieser Schmerz, wie man mich aus dem Zimmer führte und ich fühlte, dass ist schrecklich was da passiert – diesen Umstand „jemanden ein letztes Mal zu sehen”, den kannte ich damals noch nicht, dennoch fühlte ihn ganz deutlich.

Immer ist das Gefühl geblieben, ich hätte ihm noch viel geben können von meiner Liebe, wenn man mich bei ihm gelassen hätte. Und ich habe meinen Opi wahnsinnig geliebt und verehrt. Das nagt noch heute!

• Als der Anruf kam, der meine Mutter über den Suizid meiner Oma informierte und sie am Telefon zusammenbrach, war ich anwesend. Ihren Schrei werde ich nie vergessen – aber dass ich dieses Geschehen genauso nah wie meiner Mutter erlebte und im Grunde verstehen konnte, was mit ihr in der Folge passierte, das hat mich dieses Tod weit weniger traumatisiert erleben lassen – als er es hätte unter den besonderen Umständen eigentlich müssen. Ich habe das alles 1:1 mit meiner Mutter gehört und erlebt, da war keine Schonung und fremde Interpretation. Ich musste da mit ran und durch, gemeinsam mit allen anderen. Das habe ich im Nachhinein mit weniger Schaden für mich erlebt als die vorherigen Schonversuche bei meinem Opa.

Davon abgesehen hatte meine Oma mit uns Kinder oft darüber gesprochen, dass es besser sei, wenn sie nicht mehr wäre. Sie würde meiner Mutter und mir (mein Bruder lebte damals schon nicht mehr bei uns) nur Sorgen bereiten und zur Last fallen. Sie hatte uns über die Jahre, die wir sie am Abend nach dem Besuch bei uns zum Bus brachten, nie im Zweifel gelassen, dass sie dieses Lebens müde sei. Meine Mutter hatte ihr irgendwann untersagt, ihr so etwas zu sagen. So erzählte sie es uns – als Geheimnis. Und wir Kinder erzählten ihr, dass wir sie lieb hätten und sie bei uns behalten wollten. Das war ein bisschen wie ein Spiel für uns. Ich kannte damals die Tragik dahinter ja nicht. Ich war zwölf Jahre alt. Ich hatte zwei Jahre zuvor erfahren, dass geliebte Menschen wegen schrecklicher Krankheiten sterben. Ich hatte noch so gar keine Ahnung davon, dass es die Möglichkeit gab, dass Menschen diesen Zeitpunkt selbst bestimmen konnten. Das Gefühl war ambivalent, ich wusste, meine Oma wollte das so und somit war es wohl irgendwie gut so, als es passierte – für sie. Aber ich sah, dass meine Mutter sehr darunter litt. Nicht nur ein Tod – ein Suizid. Anderes Level. Nicht nur alleine unter dem schrecklichen Tod, auch unter dem folgenden unschönen Familiengedöns.

Ich konnte damals nächtelang nicht schlafen, weil ich in meinem Zimmer durch den Vorhand das Fensterkreuz sehen konnte – und in der Fantasie immer dort meine Oma hängen sah. Kinderfantasie. Irgendein Mischmasch von mal etwas im Fernsehen aufgeschnappt. Meine Oma hatte sich an einem Abflussrohr in der Herrentoilette im Altenheim stranguliert. Ich lernte dass die Seilstärke und Fallhöhe den Unterschied zwischen Strangulation und Genickbruch im Sterben ausmacht. Das ist sehr krass für eine Zwölfjährige, war aber die absolut notwendige Auseinandersetzung, um dieses Bild im Kinderzimmer irgendwann wieder vor die Tür setzen zu können. Ich bin mit dem Suizid meiner Oma gefühlt mehr als Erwachsene im Reinen als mit den anderen Sterbefällen in meiner Familie.

• Als mein Vater starb, war ich neunzehn Jahre alt. Dem Gesetz und der Lebensumstände nach erwachsen mit Schulabschluss und Ausbildung und die ersten Wochen in der ersten eigenen Wohnung lebend. Und immer noch ein Kind, sein Kind. Dass meine Mutter nicht den Mut fand mir klipp und klar zu sagen, dass mein Vater sterben würde, sondern das ihrem damaligen Lebenspartner überließ zu tun – der der letzte Mensch war von dem ich das hätte hören wollen, der auch der letzte Mensch war, den ich überhaupt in einer solchen Situation des Erfahrens dabei hätte haben wollen, war schlimm für mich. Das hatte in der Beziehung zu meiner Mutter einen immensen Knacks gegeben, dass sie sich nicht in der Lage sah, die mir diese Nachricht liebevoll und schonend zu vermitteln.

Heute weiß ich natürlich, dass das eine ganz besonders schlimme Herausforderung ist für ein Elternteil solch eine Nachricht dem eigenen Kind zu vermitteln und dennoch: ich hätte es damals aus dem Mund meiner Mutter ganz anders ertragen können. Das war ein Vertrauensbruch, der mich sie nicht die wichtigen Fragen stellen ließ. (Meine Mutter arbeitete damals in der Lungenfacharztpraxis in der mein Vater zur Behandlung war als Lungenkrebspatient.)

• Nachdem mein Vater gestorben war und beerdigt werden sollte, entschlossen mein Onkel und meine Tante meine Cousine, die zu dem Zeitpunkt auch schon zehn war, nicht an dem Begräbnis meines Vaters, ihres Onkels teilnehmen zu lassen. Sie sei zu jung, ihre Eltern wollten sie beschützen. Mir wäre es damals wahnsinnig wichtig gewesen, sie dabei zu haben. Meine Familie, eh denkbar zerbrochen und schwierig zu erleben, eine Familie in der niemand in dieser Zeit einmal den anderen fragte, ernsthaft interessiert, wie es ihr, ihm mit dem Tod des Sohnes, Bruders, Vater erginge, war eben ein gespaltener Trost. Sie war mir wichtig, mein Sonnenschein. Ich hätte eine komplette restliche Familie damals in dieser besonderen Situation gebrauchen können.

Der Tod, ein Sterben – das ist nie gleich. Und so individuell diese Vorgänge sind, so individuell ist deren Erleben. Man kann ein Kind nicht darauf vorbereiten, aber man sollte ein Kind den Tod erleben lassen. Es beim Sterben eines geliebten Menschen nicht ausklammern. Kinder, darauf vertraue ich, tun in einem solchen Moment genau das Richtige. Instinktiv Und sie können dem Menschen beim Gehen viel Kraft und Zuversicht spenden, weil sie – im Vergleich zu den Erwachsenen – sind wie immer und ganz natürlich mit dem Thema umgehen. Wenn Kinder neben dem Sterbenden singen und lachen wollen, lasst sie das tun. Das Sterben kann herrlich lustige Moment enthalten, versagt diese Euch und den Kindern nicht!

Das Schlimmste was man einem Kind antun kann, meiner Erfahrung nach, ist es aus solchen Vorgängen raus zu halten, denn dann stehen sie eines Tages mit dem Tod da und wissen nichts mit ihm anzufangen. Und alle anderen, die es mit seiner Trauer gut auffangen könnten, sind beschäftigt: mit dem Tod (oft leider auch der Angst davor) und der eigenen Trauer. Weswegen ich es für so wichtig erachte, dass wir uns dem Tod schon nähern, selbst wenn er uns noch gar nicht persönlich betrifft. In unser aller Leben wird gestorben werden, manchmal früher, manchmal später.

Die Angst davor, die Verweigerung wird uns weder aufhalten – noch unsere Kinde davor schützen können. Aber Offenheit lässt Kinder fragen stellen und viel sanfter durch das Abschied nehmen geleiten!

2017-09-29

Meine Musikliste zur Beerdigung

Man muss ja vorsorgen. Auf unterschiedlichen Ebenen. Und wenn man es auf der einen Ebene nicht so gut tun kann, sollte man es auf der anderen wenigstens tun. Zur Zeit bin ich an der Liste „Lieder für meine Beerdigung” dran. Also Status 2017. Man weiß ja nicht, was da noch kommt. Aber realistisch betrachtet sind in den letzten Jahren nur sehr wenige Lieder auf den Markt gekommen, die mich wirklich überzeugt haben. So wie zum Beispiel: … nein, mir fällt keines ein.

Nun denn, die bevorstehende Älterwerdung wirft mentale Schatten auf notwendige Auseinandersetzung und so überlege ich schon seit einiger Zeit hin und her, her und hin. Zeit das Dilemma vorab zu skripten:

Also auf alle Fälle sollte Elvis „Suspicious Minds” gespielt werden. Ich mag das Lied, mochte es schon immer – es zieht nicht so runter wie „Ghetto”, definitiv sein Song! Meine Eltern waren Rock 'n Roller, Elvis war ihr Held, er begleitete mich ihrerseits in meiner Kindheit sehr. „Suspicious Minds” haben Freunde auch auf der Abschiedsfeier meiner Mum gespielt, das war mir wichtig – und so schließe sich der familiäre Kreis bei meinem Abschied. Das wäre mir sehr wichtig.

Schwieriger ist's bei Abba. Ich bin Generation Abba. Ich liebe Abba heute immer noch, auch wenn sich mein Musikgeschmack sicherlich in andere Richtungen entwickelt hat, also mehr vom Pop weg. Aber die Lieder von Abba sind meine Lieder. Abba haben im Laufe ihres Bestehens acht Studioalben veröffentlicht. Acht Mal (im Schnitt) 16 Songs, die allesamt hörbar (naja, bis auf ganz wenige Ausnahmen) sind. Mein liebstes Lied war und ist „Fernando” – das war er damals, weil es die erste Single war auf der endlich einmal Anni-frid eine Single singen durfte, die ich immer souveräner fand als Agnetha (und übrigens auch ihre Stimme spektakulärer). Aber es ist einfach ein wunderschöner Song, der immer passt – denn es ist leider immer überall Krieg auf dieser Welt. „My Move My Life” wäre dann aber doch der noch bessere ruhige Beerdigungssong von denen.

Nun will ich aber auf meiner Beerdigung gar nicht so sehr traurige Lieder spielen lassen. Das Bild von Leuten in der Kapelle oder im Kreamatorium oder wie das auch immer bis dahin gestaltet würde, die tanzen und mitsingen, das fänd' ich einhundertmillionen Mal schöner als wenn alle Buddies in Gedanken versunken da vor sich hin sitzen. Und frieren. In diesen Räumlichkeiten ist es ja immer kalt, ein bisschen Bewegung schadet da nicht.

Für diesen Plan sind Songs wie „Suspicious Minds” nicht so optimal, „Fernando” mal so richtig suboptimal. Und … naja … „Dancing Queen” geht nicht. Fand ich immer überhypt, netter Song aber ist ja schon von einer Hochzeit besetzt. „So Long” ist ein großartiger Uptempo-Song. Aber dann doch nicht mein Abba-Song.

Und schon schlägt die angeborene Unentschiedenheit meines Sternzeichnes Waage in voller Länge zu. Würde es nach mir gehen, könnte man auch alle Studioalben von denen komplett durchspielen. Der Stimmung wegen. Aber das wäre dann wohl die längste Trauerfeier auf dem hiesigen Breitengrad. Andererseits: eine Beerdigungsgesellschaft mit Perücke, in Schlaghosen oder Minirock mit viel Glitzer und Plateaustiefeln? Beerdigungshappening als Abba-Party?

Der dritte Song darf etwas sein von entweder Depeche Mode oder The Young Gods, Placebo oder Tool. Oder Wolfsheim, ich liebe die Stimme von Peter Heppner. Mein Lieblingssong ist durchaus „This Time” – aber der Song ist ja nun von vorne bis hinten Tod und Abschied und so dermaßen nicht tanzbar. Schwierig. (Aber ein tolles Lied!) Lustig wäre ja, stellen wir uns vor, mein Tod würde durch simples Ersaufen konsequent durchgesetzt werden – dann könnte man „Die Flut” spielen, dann hätte ich Heppner und Joachim Witt dabei (ich liebte auch das Video zum Song sehr!) Das wäre doch ganz großes Kino oder? (Naja, also mein Humor wäre das schon sehr.) Dummerweise ist „Die Flut” nicht wirklich tanzbar. Und eher depressiv machend. Also vielleicht besser nicht ertrinken.

Das wird auch noch mal richtig schwierig. (Wirklich, die Koma-Musikliste ist viel einfacher.)

Die andere Frage, die könnte die Entscheidung natürlich vereinfachen, wie viele Lieder könnte man auf auf so einem Event spielen? Heutzutage werden solche Abschiede ja auch nur noch schnell schnell absolviert, man will sich mit dem traurigen Gedöns nicht lange aufhalten müssen. Und der Kaffee ruft auch. (Wenn ich älter würde, bei einigen Herren wohl auch die quälende Prostata.) Könnte man sich nämlich für jede Dekade einen Song aussuchen, das wäre bonfortionös und würde in der Auswahl einiges vereinfachen.

Keine Klassik. Ich liebe Klassik, finde das aber als Thema auf Beerdigungen echt durch zelebriert, von hinten nach vorne und von oben nach unten. Bach, dieser arme Gassenhauer aller Beerdigungsevents – ob der das so für seine Musik gewollt hatte?

Ihr seht also, es ist alles gar nicht so leicht. Und wie schnell wird das falsche Lied auf Eurer Beerdigung gespielt (womöglich noch als billige Cover-Konserve)? Man kann nie früh genug mit der Planung anfangen!

2017-09-16

Happy Birthday kleine Mum!



75. Fünfundsiebzig Jahre wäre sie heute geworden, wenn sie noch hier wäre.



So viel Veränderung, Vermissen in den letzten elf Jahren, die sie nicht mehr am Leben ist. Ich hätte mir keine bessere Mutter wünschen können, eine Mutter die eine Löwin war für ihre Kinder; die so viele Opfer gebracht hatte, um mir meine Wünsche zu erfüllen – trotz immer widriger Umstände. So offen, herzensgut, liebevoll, stark in den wichtigen Moment und doch auch schwach. Die immer Menschen die Hand reichte und ihnen ein Ohr lieh.

Happy Birthday kleine Mum, wo immer Du jetzt auch mit wem bist!

gez. ganz viel Liebe

2017-09-10

Beerdigung

Freitag war dann die Beisetzung vom verstorbenen Vater in der Urne. Wieder eine Beerdigung ohne Worte. Dieses Mal war ich darauf vorbereitet und insofern nicht mehr ganz so schockiert, wie ich es sehr war als die 104jährige Mama, Oma und Urgroßmutter beerdigt worden ist. Ein wundervoller Mensch, lebendig und liebevoll bis zum Schluss, drei Generationen – und all die, die diesen Abschied organisiert hatten (andere wurden nicht einbezogen), hatten nicht ein Wort für die Frau übrig. Nur Musik. Hätte nicht eine ihrer „Bibliothekskinder”, Oma arbeitete in Köpenick in einer Bibliothek und der Kontakt zu ihren deutlich jüngeren Kolleginnen hielt bis zum Schluss, wenigstens ein Gedicht von Fontane am Grab aufgesagt … ach nee, nicht schön. Gar nicht schön war das!

Und dann hat man die Frau, die Zeit ihres Lebens die Natur und den Wald liebte und sehr gerne in ihrer langjährigen Wohnung in unterster Etage wohnte, weil sie dort fast im Garten wohnte, in so ein Marzahner Plattenbau-Grab gestellt (diese hochwändigen Grabschränke, in denen die Urnen hinter Marmorplatten verschwinden). Für Mutti nur das Beste, wie man es selber meint es so für sich haben zu wollen. Kaum einen Gedanken daran zu verschwenden, was Mutti wirklich für sich gewollt hätte.

Schlussendlich ist es so, wenn man nicht vorher klipp und klar abklärt – oder wenigstens im sofortigen Zugriff es aufschreibt – wie man seinen eigenen Abschied sich wünscht oder vorstellt, wird man so begraben werden, wie andere es für sich selbst wünschen. Im Grunde ist jetzt der Vater auch so so beerdigt, wenn auch deutlich schöner als die Oma auf dem gleichen Friedhof, wie sich die Mutter es für sich selbst vorstellen kann. Der neueste Trend: Urnen werden um einen Baum in einer abgesteckten Baumscheibe in Gräber abgedeckt mit runden Metallplatten in einer Art Gemeinschaftsgrab beerdigt. Der Partner kann später dazu gelegt werden. Sehr kleines Grab, dessen Pflege genauso obsolet sein kann, weil der Friedhof eh etwas Grün auf die Scheibe pflanzt, wie man es aber auch pflegen kann – wenn man es wünscht bzw. noch kann.

Es sind dann doch erstaunlich viele Menschen zum Abschied nehmen gekommen. Menschen, die zwar im gelebten Alltag der Eltern kaum noch vorkamen – wer mag es ihnen verdenken, besuchen konnte man die Eltern in der Wohnung nicht mehr. Und raus konnten die Eltern nur noch selten. Wenigstens wollte man die Witwe bei diesem schweren Gang unterstützen.

Auch die Mutter des Verstorbenen, im neunten Lebensjahrzehnt, familiär unter „die Hexe” laufend, der Bruder – zu denen der Verstorbene keinen Kontakt mehr hielt – sind auf den Friedhof gekommen. Die Schwester zu der der Verstorbene wohl auch kaum Kontakt hielt, wenngleich man sich nicht gram war, kam extra nicht aus dem anderen Bundesland angereist, um nicht auf diesen Teil der Sippe stoßen zu müssen. Die Tragik, dass sie in der Woche in der er im Sterben lag, gerade in Berlin weilte. Mehrschichtige Stimmung also, Menschen, die sich gar nicht mehr die Hände reichen wollen und es nun doch taten. Und trotz der unschönen Geschichten, die ich natürlich im Laufe der Jahre immer wieder mal hörte: keine Mutter sollte verdammt noch mal am Grab ihres Sohnes (oder Tochter) stehen müssen.

„Wir gedachten N. M. in der Musik.” So heißt es dann, wenn der arbeitslose Trauerredner sich kurz vor der Urne verneigt und die Anwesenden auffordert, die eigenen Blumen wieder an sich zu nehmen und zum Auszug aus der Kapelle draußen ein Spalier zu bilden. Die Musik aus der Klischeekiste (okay, der CD-Sammlung zufolge war der Mann auch Klischeemusikliebhaber): Conquest of Paradise, Time to Say Goodbye. Geht immer in solchen Momenten! Kann man nichts falsch machen, Songs, die in dieser Umgebung auch Leuten feuchte Augen bescheren, die vielleicht gar keinen realen Grund dazu haben müssten.

Drei Songs, ein Spalier, ein kurzer Gang hinter die Kapelle zum Grab, ein bisschen am Grab stehen. Außerordentlich viele Blumene. Im Grunde nicht mal große Beileidsbekundungen an die Ehefrau, vor allem nicht an die Mutter. Allgemeine Verabschiedung. Der Rest: Abgang zum Essen.

69 Jahre Leben. Und das war's dann. Formeller Abschied, Teil eins.

Formeller Abschied, Teil zwei, führte uns in den Ratskeller in der Köpenicker Altstadt. Dort, wo er immer noch mal hin wollte, aber wie es mit Kellern so ist: es führen Treppen in den Keller, die befährt kein Elektrorollstuhl. Das Buffet war mehr als ordentlich, gutes Brot, frische Salate, Mozzarella Caprese mit Analogmozzarella, gedünsteter Fisch mit Kräuterkruste an frischem Gemüse, dto. die etwas trockene Hühnerbrust und Sauerkraut mit Haxe satt. Zum Dessert Mohnpielen, Berliner Luft und Rote Grütze. Was ich übrigens nach wie vor so sehr schätze an den älteren Generationen, vor allem denen aus dem ehemals Ostsektor dieser Stadt kommend: da wird kein Gewese um das Essen gemacht! Durchaus erholsam, wenn einfach nur gegessen wird, sich alle über eine Haxe freuen und nicht einmal das Wort „Glutamat” fällt.

Über den Verstorbenen wurde so gut wie gar nicht gesprochen – außer vielleicht von denen, die von außerhalb angereist waren und über die Jahre noch etwas Update in seiner Entwicklung bzw. Nichtentwicklung haben wollten. Naja. Ich weiß nicht, vielleicht ist das auch eine familiäre Sache von Pragmatismus: was weg ist, ist eben weg. Bei den Beerdigungen in meiner Familie wurde dann doch immer etwas mehr über die gesprochen, wegen denen man sich aus traurigem Anlass zusammen gefunden hatte.

Schön im Unschönen: der Mutter geht es im Moment erstaunlich gut! Sie scheint zu sich zu kommen, zu erwachen. Sie ist einer neuen Therapie und dem vorsichtigen Abbau der, sie so emotionslos machenden, Medikamente gegenüber nicht abgeneigt. Auch dem Thema Tagesklinik öffnet sie sich immer mehr. Dass Freunde sich ihr nun wieder zuwenden, tut ihr gut. Die Blumen auf dem Balkon, den ich neulich für sie putzte und bepflanzte, die gießt sie fleißig und freut sich über die Blumen. Und kommentiert das sogar von selbst. Ich, für meinen Teil, bin wirklich voller Hoffnung, dass sie jetzt vielleicht noch mal ohne diesen Ballast in ihrem Leben, die Kurve bekommen kann.

Tsja, manchmal muss einer erst dafür sterben.

Ich indes werde in den nächsten Tage eine Rede schreiben, von der ich mir wünsche, dass sie zu meiner Abschiedsveranstaltung vorgelesen wird. Und ich werde die Songs aufschreiben, die ich mir wünsche, dass sie gespielt werden sollen (und auch aufschreiben, warum gerade diese Songs gespielt werden sollen.) Ich fürchte, das sind vielleicht nicht so die Lieder, die dem Anlass angemessen sein werden – nach heutigem Beerdigungsstandard – dafür sind es dann meine Lieder.

Ich möchte keine Stille. Ob überhaupt jemand da sein wird, der etwas über mich sagen könnte, ist unwahrscheinlich. Familie ist da kaum (gehen wir davon aus, ich werde älter als der bisherige Durchschnitt meiner Familie). Wohl eher Freunde. Ich möchte da keine Mühe machen, aber ich möchte in meinem letzten Moment post mortem danken und vielleicht noch einen Lacher spenden.

Ich möchte, dass auf meiner Beerdigung gelacht wird. Viel, herzlich und laut. Vielleicht sogar über mich. Das fände ich knorke.

2017-08-12

Das pure Leben bis zum Tod

Was für eine Woche. Kaum den Italienischkurs und eigene gesundheitliche Probleme in der vergangenen Woche verdaut, Sonntag der Anruf von der weltbesten Freundin (in Aachen weilend, um dort die Asche vom Onkel des weltbesten Freundes zu beerdigen und den anderen krebskranken Onkel zu besuchen), ich solle die Mutter zusammen mit dem Enkel einsammeln und ins Krankenhaus. Der Vater, der dort seit einigen Wochen im mehr oder wenigen wieder kritischen Zustand lag, wurde erneut auf die Intensivstation verlegt, nun neu: Nierenversagen.

Ein Déjà vu vom Dezember letzten Jahres, als der Vater noch einmal sehr gnädig eine Chance, von wem auch immer, und wie durch ein Wunder (hartes Arbeiten von Medizinern und Pflegepersonal) erhalten hatte, die er – das muss man so hart sagen – nicht genutzt hatte. Der eh schon im innern nicht so schöne, noch mental gereifte Mensch, der es im Vorfeld schon geschafft hatte vom Hausarzt der Praxis verwiesen zu werden, da er zu offensiv ablehnte an seinem Gesundungsprozess mitzuarbeiten – und deutlich unterhalb der üblichen Zeit aus der Reha entlassen wurde „Wenn Sie nicht mitarbeiten, können wir hier nichts für sie tun.” mutierte nach Sauerstoffunterversorgung, damals mehreren Wochen im künstlichen Koma und zwischenzeitlichem Schlaganfall endgültig zum Patiententerroristen.

Die Vorhersage – und dazu musste man keine medizinisch ausgebildete Fachkraft sein – dass er, wenn er seine Lebenseinstellung nicht um mindestens 180 Grad dreht, in spätestens einem halben Jahr wieder im gleichen Zustand sein würde wie in seiner letzten Krise, war nichts, was etwa als sonderlich esoterisches Glaskugelgedankgut gelten sollte.

So war dem auch. Aufnahme im Krankenhaus ins Schlaflabor, weil er nicht gut schlafen konnte. Wobei ich bis heute nicht verstanden habe, was ein Mensch, dem die Lunge unter der Vorerkrankung aber eben auch Adipositas im körpereigenen Wasser absäuft, in einem Schlaflabor zu suchen hatte. Dort stellte man also fest, dass seine Lunge voller Wasser war, der Zustand wieder extrem kritisch, verlegte ihn auf die Intensivstation und ins künstliche Koma und prognostizierte ihm ein künftiges Leben als Pflegepatient an der Beatmungsmaschine.

Alle Versuche ihn ins aktive Bewusstsein zurück zu holen scheiterten, weil er sich mit der Beatmung nicht abfinden wollte. Natürlich ist es eher Panik fördernd aufzuwachen und fremdbestimmt beatmet zu werden – nur muss man da leider durch. Und wenn man sich diesem Prozess verweigert, hat man eher keine Chance auf … irgendwas. Von Genesung konnte man in diesem Fall eh nicht mehr sprechen.

Einige Tage auf einer anderen Station in Quarantäne. Nun Keimbefall – angeblich der einer anderen Patientin. Aber schlussendlich lag der Mann die vergangenen Jahre zu oft selbst im Krankenhaus, um nicht über eigene resistente Keime am Mann zu verfügen. Zwischenzeitlich wurde ein externer Betreuer beauftragt. Die einzige Vollmacht, die existierte, war eine Betreuungsvollmacht der Ehefrau, die aber aufgrund ihrer psychischen Erkrankung zu rationalen Entscheidungen eher nicht mit solchen Entscheidungen beauftragt werden sollte. Die Tochter wollte aufgrund des sehr gespaltenen Verhältnisses zum Vater künftige Entscheidungen über sein Leben nicht tragen. Der Dissens lag auf der Hand: der Patient hätte unbedingt leben wollen, das war bekannt. Sein künftiges Leben wäre aber ein Siechtum gewesen und somit ein Albtraum – und zwar für alle Beteiligten.

Das Wochenende stand an mit dem Beerdigungstermin des Onkels. Die Diskussion, ob sie nun nach Aachen fahren sollte oder auch nicht? Das Hinfahren ein emotionaler Herzenswunsch. Schlussendlich hätte der Vater jetzt auch noch Monate so liegen können, wie es aber auch jederzeit zur Krise kommen hätte können. Insofern sagte ich zu im Notfall die Begleitung und aktive Betreuung der Mutter zu übernehmen. Und natürlich legte sich der Vater ganz unbewusst ins Zeug, der Tochter auch diese Reise möglichst schwer zu machen. Denn, wie schon geschrieben, Sonntag wurde er zurück auf die Intensivstation verlegt mit dem Nierenversagen.

An dieser Stelle: sollte jemals jemand meiner Mitlesenden in die Versuchung zu kommen in Berlin im Neukölner Krankenhaus auf die Intensivstation 2 zu kommen: flieht! Ein einziger Schlachthaufen. Uninformierte Ärzte, dass man immer wieder Zweifel haben musste, sie würden jedes Mal von einem anderen Patienten sprechen. Plumpe Versuche Unterlagen nicht rausgeben zu wollen. Angehörige, die wegen des kritischen Zustandes in die Klinik berufen werden, lässt man über eine Stunde im Vorraum warten ohne irgendeine Nachricht. (Schlussendlich war der Patient in einer Untersuchung und alleine diese Information hätte viel Stress bei der Mutter, die hochgradige Angstpatientin ist, vermieden.) Sehr unangenehme Erfahrung.

Der Mann war verkeimt, das war bekannt. Der Magen-Darm-Trakt wohl schon seit Tagen befallen, was man bis Sonntag den Angehörigen allerdings nicht mitgeteilt hatte. Und was dafür sprach, dass er nämlich der Keimträger war, der zur Isolierung führte – was mir dann sehr leid tut für die Patientin, die vorher mit ihm zusammen gelegen hatte. Was aber auch ganz deutlich macht, wie immer noch so schlecht in Deutschen Krankenhäusern mit MRSA umgegangen wird. Nun konnten die Nieren nicht mehr, eine Herzkatheteruntersuchung ergab speziellen Bakterienbefall auf einer Herzklappe, die es nun auszutauschen galt, vorher hätte man den Mann nicht an die notwendige Dialyse hängen können, sonst würde der Keim im gesamten Körper verteilt.

Wir hatten hier also einen aktiven Sterbeprozess. Das beginnende multiple Organversagen, einhergehend mit einer Sepsis bei einer sehr schlechten Zukunftsprognose. In sehr vielen anderen Ländern, wo die gesundheitliche Versorgung über ganz andere Finanzierungsmodelle definiert wird – oder es die durchaus hochfähige medizinische Versorgung gar nicht gibt – hätte man den Mann jetzt sterben lassen. Insbesondere hätte er eine Patientenverfügung verfasst und unterzeichnet.

Schwierig, denn immerhin hatten wir schon im Dezember gedacht, er würde die Krise nicht überleben, hatten die Ärzte ihm damals keine 24 Stunden mehr gegeben. Wer will da entscheiden?

So aber – und eben in dem Bewusstsein, der Patient hätte leben wollen – wurde er in das Herzzentrum vom Virchow Klinikum von Neuköln in den Wedding verlegt und noch in der Nacht operiert. Unter dieser OP hatte er als erstes einen 30minütigen Herzstillstand. Die Entscheidung die OP dennoch durchzuführen, traf der Operateur, weil klar war: einen zweiten Versuch würde es nicht geben. Es wurde also noch einmal sehr viel Energie von Ärzten und Pflegekräften und sehr viel Geld in diesen Patienten versenkt. Montag vormittag – die Tochter hielt die ganze Zeit telefonischen Kontakt – die Nachricht, wir sollten schnellstmöglich kommen.

Also wieder Enkel (aus Kladow) die Mutter (aus Köpenick) eingesammelt. Wir, Enkel und ich, die wir nicht von Medikamenten im Denken ruhig gestellt waren wie die Mama, mit dem Wissen, was uns dort erwarten würde und in der Sorge, es nicht rechtzeitig zu schaffen. Unter dem Aspekt wirkte der kurze Aufenthalt in der Aufnahme, wo die Mutter allerlei komische Fragen hinsichtlich des Datenschutzes, künftiger Rehaorganisationen und somit Entbindung von Schweigepflichten noch zu unterzeichnen hatte, äußerst surreal auf mich. Unterschriften für eine Zukunft, die es nie geben würde.

Dann im Vorraum zur Intensivstation sofortige Benachrichtigung, dass gleich jemand zu uns kommen würde – und ganz anders als im Neukölner Krankenhaus, konnte man sich hier wenigstens in der Gefühlsnot an einem Wasser- oder Kaffeebecher emotional festhalten. Der Chefarzt erklärte uns dann in einem ruhigen Zimmer – vor allem der Mutter (deren Neigung zum möglichen Suizid in den Akten immer vermerkt wurde) sehr behutsam den Zustand des Ehemannes, der klipp und klar „aktiver Sterbeprozess” lautete mit einer Prognose, dass er den Abend nicht erleben würde.

Schlussendlich hatte man den Mann solange an den Apparaten gehalten bis wir kamen. Seine Chance am Vormittag seine Werte zu verbessern, konnte der Körper nicht nutzen. So lag der Mann mit offenem Brustkorb (natürlich abgedeckt), zwecks etwaig notwendiger direkter Reanimation am Herzen, durch von den Maschinen suggerierten stabilen Werten vor uns. Man versicherte uns, dass er durch die Medikamente tief schlafen würde und keinerlei Schmerzen haben würden – da hier mit der möglichen Höchstdosis versorgt.

Was für mich – als vergleichsweise neutrale Begleitperson, ich hielt an dem Mann emotional deutlich weniger Aktien, als ich sie z. B. bei der Mama meiner Freundin halten würde – mitgenommen hatte, war, dass eben jene Mutter bis zu diesem Moment deutlich ausgeblendet hatte, dass ihr Mann dieses Mal wirklich sterben würde. Sie glaubte bis zu diesem Montag an seine Wiedergenesung durch die Operation und auf ihre Frage in den Raum gestellt „Was das denn alles heißen würde?” ihr – alle professionelle Behutsamkeit des Arztes zunichte machen zu müssen – klar sagen zu müssen „N. wird jetzt sterben, wir müssen uns nun verabschieden”, das war und ist auch im Nachgang für mich eine Hausnummer, die ich noch zu verarbeiten habe. Es ist ein Unterschied, ob man diesen Sachverhalt für sich im Stillen realisiert oder ihn nach außen kommunizieren muss. An die Person, die maximal darunter leiden wird.

N. hatte ein ruhiges Zimmer ganz am Ende der Station, wo wir in aller Ruhe Abschied nehmen konnten. Wir wurden sehr umsorgt von den Ärzten und dem Pflegepersonal, wurden ständig erinnert, dass man uns für alle Fragen oder Wünsche bereit stünde. Ich durfte im Vorraum telefonieren. Es war ein völlig anderes Erleben von Intensivstation als im Krankenhaus Neuköln und ich bin sehr froh, für den Mann und seine Frau und Enkel, dass der Mann im Herzzentrum gehen durfte.

Die telefonische Rückversicherung der sich auf der Autobahn befindlichen Tochter, dass wir nicht auf sie warten sollten, ihn nicht länger leiden lassen sollte. Telefonate, die der Mensch nicht braucht. Mit Kommunikation dieser Nachricht an den Arzt, einer letzten Blutuntersuchung mit trostlosem Resultat und seit unserem Eintreffen stetig sinkenden Pulsschlag, war die Stimmung gesetzt. Ich animierte seine Frau ihm noch schöne Worte mit auf den Weg zu geben oder mit ihm von den schönen gemeinsamen Momenten zu sprechen, einzig zur Sicherheit, falls er im Innern jenseits der Medikamente doch etwas mitbekommen sollte, dass ihn dabei schöne Erinnerungen begleiten sollten. Seine Tochter arbeitet in der Hospizbegleitung, ich habe viel von ihr gelernt über das Gehen und ich wollte es in ihrem Sinne für ihn richtig machen. (Denn wenn sie auch mit ihrem Vater seit längerem abgeschlossen hatte, ist sie ein liebevoller und fürsorgender Mensch, der solche Dinge korrekt händeln würde und dabei über jeden Schatten springen würde.)

Irgendwann das Gespräch mit der Ärztin der Nachmittagsschicht, die sehr deutlich sagte, dass man bei dem jetzigen Pulsschlag üblicherweise reanimieren würde aber sie das in seinem Fall nicht mehr tun werden. Sie legte indirekt direkt das Abschalten der Geräte nahe, im Grunde lag vor uns ein toter Mann. So war schon die Aussage vom Chefarzt eine Stunde zuvor, als ich nochmals auf den Betreuer hinwies, dass diese Entscheidung über den Zeitpunkt alleine bei den Ärzten liegen würde.

Also musste ich der Mutter sagen, dass wir nun Abschied nehmen müssten und in den nächsten 15 Minuten die Maschinen abgestellt würden. Die Frage der Ärztin, ob wir dabei bleiben wollten, beantwortete die Mutter mit einem „Nein.”, ich mit meinem „Ja.” (das war mein Job hinsichtlich meiner Aufgabe als Freundin, sie hätte ihn nicht alleine sterben lassen) und der Enkel mit „Ja. Aber er würde bei seiner Oma bleiben.” Daraufhin schickten wir die Ärztin wieder raus und sprachen mit der Mutter (Angstpatientin!), wovor sie denn jetzt Angst hätte? Der Enkel und ich erklärten ihr, dass es auch für sie wichtig wäre (später), wenn sie ihren Mann jetzt begleiten würde und dass sie keine Sorgen haben müsse, dass er irgendetwas mitbekommen würde oder in irgendeiner Weise reagieren würde. Sie ließ sich überzeugen. Und die Ärztin freute sich sichtlich, dass wir dabei bleiben wollten, weil das wohl doch nicht so viele Angehörige tun würden.

Dann gab es noch einen surrealen Moment als ich sie fragte, ob sie ihm nicht nochmal (im lebendigen Zustand) zum Abschied einen Kuss geben wollte, was sie (man muss einfach verstehen, dass sie unter ihren Medikamenten sehr fremdgesteuert ist und eigene Bedürfnisse kaum angehen kann, noch kommunizieren kann und man deswegen ein bisschen für sie mitdenken muss und ihr Handeln ständig anleiten muss) dann auch versuchte. Das funktionierte nicht, sie kam nicht an ihn heran, weil sie einfach zu klein und – so deutlich muss man es sagen zu dick – ist, ich bot ihr an, dass uns da der Pfleger sicherlich behilflich sein konnte. Aber so wichtig war es ihr nicht, nun, der Versuch zählt.

Und so hielt der Enkel sie, während sie die Hand ihres Mannes hielt und ich streichelte seine andere Hand. Währenddessen stellte die Ärztin die Maschinen aus, am Anfang noch erklärend bis sie bemerkte, dass von ihren Ausführungen eh nichts bei der Ehefrau ankam und ging hinaus und wir konnten bleiben in der dann doch (für mich sehr) angenehmen Stille ohne das den kritischen Zustand des Patienten tonal begleitende Gepiepe.

Der Vater regte sich natürlich nicht – man ließ im Sterben das Narkotikum und Schmerzmittel hochdosiert weiter laufen –, wurde recht schnell gelb. Zehn Minuten später stand der Seelsorger im Zimmer, der die Mutter sehr liebevoll versuchte aufzufangen, was sie aber störrisch ablehnte, denn Seelsorger ist irgendwas mit Kirche und das bräuchte sie nicht. Es gab Angebote an uns, den Vater später noch einmal im Ruheraum jenseits der Maschinen verabschieden zu wollen, was sie ablehnte (und was, wie ich wusste, die Tochter auch nicht mehr brauchen würde, denn sie hatte sich auf ihre Weise verabschiedet.)

Dann machten wir uns auf den Weg. Sie stürmte mit dem Enkel raus, während ich mich noch einmal bei der Ärztin und dem Pfleger bedankte, die „Zum Abschied-Informationsmappe” in die Hände gedrückt bekam und wir fuhren zu mir uns mit Kaffee und Kuchen zu betäuben bevor wir nach Kladow fuhren, um dort die Tochter am Abend zu empfangen. Die Oma saß auf dem Sofa (thank god to those cute little pills!), der Enkel, dem ich allen Respekt zolle, dass er das mitgemacht hatte und bei seiner Oma und Opa geblieben ist, das macht auch nicht jeder junge Mensch mit) kuschelte mit dem Kater und bereitete später das Abendessen, ich therapierte mich im großen Garten mit dem Gießen der Blumen und kescherte die Insekten bzw. die Kiefernnadeln aus dem Pool.

Langes Blogpost, kurzes Fazit: bleibt bei Euren Angehörigen, wenn sie so ruhig gestellt und im Grunde planbar auf der Intensivstation gehen werden. Es tut wirklich nicht weh, es passiert nichts, man muss davor keine Angst haben. Aber es ist das Letzte, das man dem Sterbenden mitgeben kann: dass er/sie es nicht alleine gehen muss. Die Mutter ist jetzt im Nachgang froh, dass sie bei ihrem N. geblieben ist. Und das ist, was dann bleibt in der Trauer. Ein gutes Gefühl.