Im Sommer diesen Jahres saß ich mit meiner Cousine leicht ermattet auf einer Bank im Schatten auf dem Spielplatz und wir guckten dem kleinen Großcousin zu, der unerschütterlich trotz der irrsinnigen Hitze, nicht zu stoppen war in seinem Rennmodus. Und plötzlich waren wir mitten im Thema Sucht. Wir beide haben den gleichen Opa, der eindeutig spielsüchtig und alkoholkrank war, ich dessen einen Sohn zum Vater, alkoholkrank, sie den Bruder zum Vater, wo auch ausreichend konsumiert wird vom prozenthaltigen Nass.
Da saßen wir und unterhielten uns über unser Erbe, über unsere genetische Anlage für Suchterkrankungen.
Das Gespräch war kurz, dennoch intensiv und wurde immer wieder von dem süßen Fratz unterbrochen. Aber für mich war es fast wie eine Wohltat, denn zum ersten Mal konnte ich mit einer Person innerhalb meiner Familie sprechen, die wie ich den Blick auf diese Krankheit(en) hatte und wie ich sehr sorgsam bzw. bewusst mit dieser Anlage versucht zu leben. Ohne die Droge komplett abzulehnen, was sicherlich auch eine sehr nachvollziehbare Möglichkeit ist, damit umzugehen.
Ich trinke gerne Wein oder Sekt, selten einen Cocktail und nie – so diese Spirituosen nicht in einem Cocktail verwendet werden – härtere Alkoholika solo. Ein einziges Mal habe ich versucht, mich vorsätzlich zu betrinken. Das war ein unschönes Erlebnis, das mir aber verdeutlichte, dass es in meinem Leben ein sich betrinken bis zum Filmriss nie geben wird, weil ich in der Beziehung eindeutig nicht die Kontrolle abgebe. Ich mag alle Anzeichen übermäßigen Alkoholkonsums dann haben, aber mein Unterbewusstsein funktioniert noch und das ist eine für mich ganz unangenehme Situation, in der ich mich nie wieder befinden möchte. Aber: ich trinke gerne Wein oder Sekt, weil es mir schmeckt. Tatsächlich trinke ich bei Cocktails nur gerne solche Drinks wie Mojito oder Margarita – aber die, das weiß ich längst, kann man wirklich prima auch ohne Alkohol bestellen oder sich selbst machen. Zumal man in einem guten Cocktail den Alkohol nicht schmecken sollte …
Tatsächlich aber habe ich Alkohol nie unbekümmert genießen können. Schon als Teenager nicht. Als wir anfingen die üblichen Flaschenspiele mit Alkohol etwas auf zu peppen, bzw. uns die zu küssenden mitspielenden Klassenkameraden, die ohne Spiel wohl noch eine lange Weile auf ihren ersten Kuss hätten warten müssen, schön zu trinken. Immer hatte ich das Gefühl, eine/r müsse ja die Übersicht behalten, das war dann ich und selbst als sich im Laufe der folgenden Jahre abzeichnen sollte, wer von meinen Freunden hinsichtlich des Alkoholkonsum eindeutig nicht mehr eine gesunde Kurve bekommen sollte, schwieg ich, denn ich war in meinem Modus in dem ich von jüngster Kindheit an gezwungen worden war: Toleranz zur Sucht.
Nach dem Gespräch mit meiner Cousine, habe ich mir das Buch von Dennis Schreiber „Nüchtern” gekauft. Dessen Rezensionen waren mir in der letzten Zeit immer wieder untergekommen und – wenn auch nicht regelmäßig – habe ich ab und an seine Kolumne in der taz gelesen. „Nüchtern” liest sich hintereinander weg, es ist – und das meine ich sehr positiv als Kompliment – sicherlich das pragmatischste Buch, das mir zu dem Thema Alkoholsucht jemals begegnet ist. Was Herr Schreiber vor allem geschafft hat, obwohl er hier quasi sich eine eigene Biografie seiner Sucht und dem Leben danach mit ihr geschrieben hat, keinen übergriffigen Ratgeber abzuliefern. Etwas was viele solcher Biografien nicht gut hinbekommen. „Nüchtern” ist nämlich tatsächlich erstaunlich nüchtern geschrieben – und das macht für mich die hohe Qualität dieses Buches aus. Man kann es ganz losgelöst von der eigenen Person und ihrem Umgang mit Alkohol lesen. Im Hintergrund aber rumort und ackert es im Gehirn und interessanterweise hat sich mein Alkoholkonsum, seit ich das Buch binnen anderthalb Tage ausgelesen habe, in Richtung null entwickelt. Es gab zwei Mal Wein als eine Freundin hier in Berlin zu Besuch war, den habe ich auch sehr genossen. Nur: ich vermisse ihn nicht. Gar nicht.
Mir ist klar geworden, da ich eh nie in diesem Leben werde Alkohol trinken können, ohne zu hinterfragen, ob ich in die Richtung meines Vaters etc. tendiere, so dass die Freude daran immer eine getrübte gewesen ist und sein wird. Es fließt immer eine Spur schlechtes Gewissen meine Kehle mit hinunter. Und ich möchte dieses Gefühl einfach nicht mehr. Es war schlussendlich omnipräsenter als es mein Alkoholkonsum je war. Das Verhältnis hatte sich ganz merkwürdig verschoben. Und Daniel Schreiber beschreibt sehr eindrücklich wie sehr einfach man süchtig vom Alkohol werden kann oder ist. Selbst, wenn man ihn nur sehr wenig bzw. unregelmäßig konsumiert. Sagen wir es so, wer dieses Buch offen liest und sich selbstkritisch hinterfragen möchte und reagieren möchte, der wird der Alkoholindustrie künftig eher Feind als willkommener Kunde sein. Ich rede nicht von absoluter Abstinenz – aber wer nach Lektüre dieses Buches weiterhin jeden Abend zum Abendessen ein Bierchen trinkt, ist – so muss man es nun mal deutlich sagen – längst auf dem Tripp.
In der lustigen wöchentlichen Gesprächsrunde ist eine angenehme Person anwesend, die sich in den letzten Jahren von ihren Süchten befreit hat: Alkohol und Zigaretten, nacheinander. Momentan heißt ihre Droge Kaugummi. Sie erzählte diese Woche ihre Geschichte, die sehr sehr meiner eigenen Geschichte gleicht. Eltern und Geschwister voll auf dem Tripp bis hin zum Exitus der Mutter, die Schwester lebt noch, scheint es aber der Mutter nachmachen zu wollen. Und mittendrinnen sie, die mit ihren eigenen Dämonen kämpft, sich sorgt und im Grunde so diese Droge einfach auch nicht loswerden kann.
Dieses Gespräch hat in mir ganz viel aufgeweckt und wieder bewusst sein lassen; vor allem begreifen lassen, was das alles mit mir und meinem Leben angestellt hat. Die Sucht in meiner Familie.
Ich war knapp vier Jahre alt, da stand ich mehrmals nachts vor meiner Mutter, die, nachdem mein Vater sie schon nachts im Suff verprügelt hatte, schützend in unserem Schlafzimmer vor meinem Bruder stand, den mein Vater nun als nächstes verprügeln wollte. Mich hatte er – aus welchen Gründen auch immer – nicht angerührt und ich weiß, dass ich als Kind das unerschütterliche Wissen hatte, das er das auch nicht tun würde. Also stand ich vor meiner Mutter und meine Bruder und beschützte sie vor meinem Vater. Meine Kindheit endet ungefähr zu diesem Zeitpunkt. Mein Bruder wirft mir heute noch vor, dass mein Vater mich nie angerührt hätte. Als hätte ich daran schuld.
Ich wurde also mit knapp vier Jahren in die Position gehoben, die Schlimmes verhindern konnte. Ich wurde zu einer kleinen Person, die sich um ihr Umfeld sorgte und kümmerte. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt war meine Kindheit vorbei. Heute weiß ich, seit ich im letzten Jahr begriffen habe, das ich wohl das bin, was man hochsensibel nennt, dass ich ungeheure Antennen hatte hinsichtlich der Stimmung in meiner Familie. Ich kann mich so genau erinnern, dass mein Vater unten die Haustür öffnete (wir wohnten im vierten Obergeschoss!) und ich da förmlich spürte, in welcher Verfassung, ob besoffen und (noch) in Schmuselaune oder besoffen und schon aggressiv war und versuchte die restliche Familie darauf einzustimmen bzw. krampfhaft mich bemühte, dass wir ab jetzt bloß nichts falsch machten.
Übrigens möchte ich heute noch Menschen, die im Suff zu mir kommen und zu mir besonders nett „schmusig” sein wollen, töten. Die anderen auch. Nichts ist schlimmer für mich als wenn ein Mensch, egal ob bekannt oder unbekannt vor mir steht und mit verschwommenen Blick und unklarer Haltung von mir Zuneigung einfordert, weil der Suff diese Person gerade besonders empfänglich dafür macht. Daran ist nichts niedlich, lustig oder verständlich. Bitte: geht mir weg!
Mein Vater hatte meine Mutter in diesen Zuständen zum Sex gezwungen. Damals nannte man das übrigens – weil Eheverhältnis – nicht Vergewaltigung.
Jahre später, meine Mutter hatte sich von meinem Vater getrennt und nach einer bitteren beruflichen Odyssee als Alleinerziehende eine Weiterbildung zur Arzthelferin gemacht und schien beruflich ein bisschen angekommen zu sein, kompensierte sie aber dennoch bereits zu diesem Zeitpunkt ihre persönliche Unzufriedenheit über ein ordentliches Maß an Hypochondrie.
Ich war die einzige Person im Haus, die damit zu leben hatte. Mein Bruder hatte sich zu unserer Großmutter in die häusliche Bequemlichkeit verabschiedet. Über die natürliche Liebe zur Mama hinaus, war sie schlussendlich die einzige Person, auf die ich mich irgendwie verlassen konnte, also sorgte ich mich sehr um sie. Ich hätte gefühlt niemanden gehabt, wäre sie mir auch noch weggebrochen. So einen Bruch hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach erlebt, zum einen mit der Scheidung, die mein Vater nutzte, sich jetzt nicht mehr allzu aktiv mit uns Kindern beschäftigen zu müssen und dem Tod meines, wirklich heiß geliebten aber eben alkoholsüchtigen Opas und meiner Oma. Meine Welt war einfach relativ früh nicht mehr so ganz in Ordnung. Shit happens.
Das berufliche Umfeld und die Neigung meiner Mutter sich ganz gerne über, manchmal vom Arzt diagnostizierten, manchmal sich selbst verordnete Diagnosen zu definieren, ließen sie sehr leicht an Medikamente zu kommen und die schluckte meine Mutter dann auch stellenweise sehr gerne und in Mengen. Ich lebte als dreizehnjähriges Mädchen mit meiner Mutter und ich sehe sie heute noch morgens in der Küche stehen, während ich am Frühstückstisch saß, und sie sich neben der Kaffeemaschine stehend ihren ersten Pillencocktail zu genehmigen. Die Pille nahm sie dann abends im Bad. Und mehr. Bei uns lagen, seit ich denken konnte, offen Tabletten herum. Ich ahnte, dass das alles nicht so sein sollte, wie es war und hatte einfach schreckliche Angst um meine Mama. Und da war niemand mit dem ich darüber hätte sprechen können, denn mein soziales Umfeld bescheinigte mir immer sehr früh, dass ich so ein vernünftiges, kluges, umsichtiges und verantwortungsvolles Kind sei. Klar, war ich das. Ich hatte ja zu funktionieren, während es alle anderen um mich herum nicht oder phasenweise nur sehr eingeschränkt taten.
Allerdings muss ich sagen, dass meine Mutter auch immer auf ihre Weise „funktionierte” – auch über ihren eigenen Kräfte hinaus. Nur ich war es, die eben immer mitbekam, wenn diese Kräfte abwesend waren. Spätestens dann war ich gefordert. Ich war oft erster und einziger Ansprechpartner, denn ich kannte mich in unsrem Leben aus, vor allem in der familiären Situation. Ich hatte Verständnis, ich teile die Sorgen, um den Bruder, um das Geld, um die Arbeit meiner Mutter, um die sie betrügenden Liebhaber meiner Mutter. Also hatte ich auch Verständnis für die „Krankheiten” meiner Mutter. Ich glaube, in meinem Gehirn hatte sich seit zwei Jahren die Sorge formuliert, dass meine Mutter eigentlich tablettensüchtig sei. Nur: ich kannte damals das Wort noch gar nicht als vielleicht gerade mal Dreizehnjährige.
Ein Jahr zuvor hatte sich meine Großmutter suizidiert, dieser schreckliche Umstand trieb meine Mutter in die Depression und somit in die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka (damals waren diese deutlich als etwas anderes zu begreifen, als heute). Und wie schon gesagt, sie kam an den Stoff heran. Ich hielt das aus, ich hatte – wie mir mein Umfeld andeutete – stark zu sein für meine Mutter. Und außer meiner Mutter fragte mich eigentlich nie jemals jemand, wie ich denn mit dem Tod meiner Oma zurecht kommen würde? Ich dealte mit dem Suizid meiner Oma, wobei Suizide in den 70iger noch eine etwas andere Nummer waren als heute (schon alleine für die Hinterbliebenen im Image) und mit der Depression meiner Mama. Zum Trost durfte ich damals endlich eine Katze haben, die ich mir gewünscht hatte seit ich denken konnte. Katze also für Kindheit, vielleicht macht das deutlich, warum mir diese niedlichen Viecher heute noch immens wichtig sind!
Als Fünfzehnjährige habe ich all meinen Mut zusammen genommen und ihr gesagt, dass sie zu viele Tabletten nimmt und ich Angst habe, das sie wie mein Vater wird (der mittlerweile dank diverser Entzugstherapien auch wirksame Tabletten zu sich nahm – und weil es schöner knallte weiterhin MIT dem Alkohol.) Dank ihm hatte sich zwischenzeitlich das Wort „tablettensüchtig” in unserer Familie etabliert und ich konnte ahnen, dass der Begriff etwas ambivalent in seiner Bestimmung war. Zumindest machten die Tabletten meinen Vater mehr und mehr zu einem Quartalstrinker, was an sich ganz positiv war. Er war zwar ständig unter Tablettenstrom – aber dann prügelte er sich wenigstens nicht mehr. Mein Bruder, zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig, hatte mittlerweile eine stattliche Alkohol- und Drogenkarriere nicht nur angestrebt, sondern war bereis gut im Vollzug. Das war dann eben so in unserer Familie, „er kam halt nach seinem Vater.” Schrecklich, aber voll legitimiert. Und alle bitteren Konsequenzen, die sich daraus ergaben, wie Sorgen, Kosten oder Gerichtsverfahren und deren Kosten, schmetterte die Familie in ihrem besonderen Einvernehmen der Sucht gegenüber gemeinschaftlich ab, damit dem armen Jungen, „der ja bloß nach seinem Vater kam und dafür nichts konnte” bloß nicht so etwas wie Gefängnis passierte. Der Rest dann schweigen. Ich hielt aus.
Aus diesen Sorgen heraus rief ich nun meiner Mutter sehr tief verzweifelt zu, ich hielte sie für tablettensüchtig! Eine Sorge übrigens, die meine Mutter mich schon öfter hatte unserem Hausarzt vorstellen lassen, um meine akuten wiederkehrenden Magenschmerzen zu behandeln. Ich bekam also bereits in diesem Alter eine Runde legaler Drogen verabreicht, die meine Magenschleimhaut wieder reizlos werden machen sollte und meine Mutter hielt mich im Grund für ihren „Partner in Crime”, der nun erstmals aufbegehrte.
Nun sprach ich also aus, was mich bekümmerte – da war aber was los! Natürlich lag ich völlig falsch, denn sie nahm die Medikamente ja nur, um arbeiten zu können; vor allem um mir ein gutes und ruhiges Leben gewährleisten zu können. In der Folge versuchte sie mich psychiatrisch therapeutisch – wegen der chronische Gastritis an der ihrer Meinung nach vorrangig mein Vater schuld war – unterzubringen, was ich ihr untersagte. Also ich ging einmal ihr zuliebe zu einer jugendlichen Gesprächsrunde und wollte das nicht für mich. Ich erlaubte mir also keine Gastritis mehr zu bekommen bzw. thematisierte meine Magenschmerzen einfach nicht mehr. Tatsächlich aber nahm meine Mutter danach doch deutlich weniger Tabletten zu sich. Jedenfalls solange ich bei ihr lebte. Der unausgesprochene Deal aber dann war, dass ich mich deutlich mehr um sie zu bemühen hatte und ihr das Leben zu erleichtern hatte, wenn sie wieder Krankheiten und Gebrechen züchtete.
Ich tat das. Denn ich war ja vernünftig. Und ich trug die Verantwortung, das war ich gewohnt! Sagen wir es ganz deutlich: wenn ich etwas besser konnte als alles andere zu dieser Zeit, dann Verantwortung tragen. Das Schlimmste für mich war, meine Mutter leiden zu sehen. Und sie litt körperlich so gerne – auch außerhalb jeden realen Leidens. Tatsächlich war meine Mum jenseits der traurigen Phase nach Selbsttötung meiner Großmutter immer ein sehr vitaler, lebenslustiger und fröhlicher Mensch. Aber sie hatte den todbringenden Männerschnupfen für sich erfunden!
Ich setzte zu dieser Zeit für mich eigene sehr stille Signale. Das war die Zeit, im Grunde begann sie kurz bevor ich auf's Gymnasium kam, dass ich still und heimlich für mich erschöpft war. Nach außen galt ich als introvertiert, was ich nie war, ich mochte all meine Freunde und Freundinnen sehr. Aber wenn ich die Chance hatte, Ruhe und Stille zu haben in unserer Wohnung, weil meine Mutter arbeiten war, dann brauchte ich diese Zeit tatsächlich für mich. Das wurde eben auch verstärkt durch diese Hypersensibilität. Alltag ist etwas, was mich viel früher und mehr ermüdet, als andere Menschen. Leider musste ich nun 49 Jahre alt werden, um das verstehen zu können – und ohne mich als ständige Versagerin zu fühlen, weil ich in der Beziehung so anders bin als andere.
Nachdem meine Mum vor nun neun Jahren gestorben war, zudem in einer in unserem Verhältnis sehr schwierigen Phase – ich habe meine Mama immer sehr geliebt aber ich konnte damals schlicht nicht mehr das Ventil sein für ihre Hypochondrie – und ich ihre Wohnung soweit aufräumte, habe ich drei (!) Schubladen vorgefunden in der Größe einer Ikea-Malm-Komode, breites Modell: voller Medikamente. Völlig unsortiert. Eine vierte Schublade, die den Anschein hatte von ihr abgewählte Medikamente zu beherbergen. Nur im Schlafzimmer. Küche und Bad lassen wir außen vor.
Die letzten Jahre, gut ein Jahrzehnt, habe ich also damit verbracht Schuldgefühle mit mir herum zu schleppen, weil ich offensichtlich nicht bemerkt hatte, dass sie weiterhin Tabletten konsumiert haben muss. Sie im Grunde ihr Ding genauso weiter gelebt haben wird, nachdem ich ausgezogen war. Vielleicht hatte sie nach meinem Ausbruch als Fünfzehnjährige bloß aufgehört die Tabletten vor mir zu nehmen. Natürlich hatte sie später wirkliche Diagnosen, deren Ursprung sicherlich in der einen oder anderen jahrelangen Medikamentation gelegen haben dürfte; aber eben auch altersbedingte Diagnosen, die eine Medikamenteneinnahme tatsächlich notwendig machten.
ICH habe also die Tablettensucht meiner Mutter nicht bemerkt bzw. ich habe ihr vertraut, obwohl ich es hätte besser wissen müssen, sehen müssen. Das muss man aushalten, wenn man schon als sehr kleines Kind mitbekommt, dass man die Verantwortung für die anderen, auch vor allem für die Eltern, auf allen möglichen Ebenen zu tragen hat. Und mit diesen Selbstvorwürfen muss ich nun leben. Denn sie sind nicht mal eben abzulegen, nur weil andere Leute, darunter auch professionell ausgebildete Menschen, mir sagen, das sei im Grunde nicht mein Bier (super Kalauer mit diesem Textbezug, oder?). Natürlich weiß ich das mittlerweile auch – aber es ist ein ganz schwerer und harter Weg das auch wirklich umzusetzen. Und immer wieder gibt es da Momente, wo im bereits gegangenen Weg an irgendeiner Stelle zurückgespult wird und ich wieder neu ansetzen muss. Verantwortung trage ich eigentlich immer für andere. Für mich? Ganz anderes Thema. Sehr neues Thema.
So einen Moment hatte ich nun diese Woche als diese patente Frau von ihren Süchten und ihrer Familie sprach und ihrer Schwester und ich begriffen hatte, dass ich nie damals mit meinem Bruder über seine Sucht gesprochen hatte beziehungsweise ihn angesprochen hatte und mich sofort wieder als Versagerin und ganz mies fühlte und mich das Gefühl überkam, mich nicht genug auch um ihn gekümmert zu haben. Als Kind. Keine oder nicht ausreichend Verantwortung getragen zu haben für ihn. Als Kind. Der er dreieinhalb Jahre älter war. Also ich das deutliche jüngere Kind.
Zumal er mir heute noch vorwirft, dass ich ja im Gegensatz zu ihm keine Prügel von unserem Vater bekommen habe. Als ob ich dafür etwas könnte oder mir das jemals so ausgesucht hätte. (Tatsächlich ist das nämlich, bei allen Vorteilen, auch ganz schön mies als einzige Beteiligte von der Prügel innerhalb einer Familie ausgeschlossen zu werden. Richtig: ausgeschlossen. Da wird man nämlich ungefragt ausgeschlossen aus dem Leidensverband! Quasi alleine aufs Boot aufs offene Meer gesetzt, während sich alle anderen aneinander ketten dürfen im gemeinsamen Leid.)
Und nachdem ich dann diese Woche da saß und heulte, wurde mir dann doch bewusst, dass ich genau nicht die Verantwortung zu tragen habe dafür, wie mein Bruder sein Leben gestaltet hatte. Was ein echtes Novum war in meiner Gedankenwelt und was mir zeigt, dass ich – mit nun demnächst fünfzig Jahren auf dem Rücken – offensichtlich langsam auf einen für mich besseren Weg bin.
Das ist ein sehr langer Text geworden. Und er ist sehr intim. Und ich danke Euch Lesern, die bisher durchgehalten haben! Aber da mein Blog für mich in der Vergangenheit immer auch ein Stück therapeutisch war, war für mich einfach wichtig das einmal zu virtuellem Papier zu bringen.
Worum ich aber wirklich inständig bitten möchte, vor allem Euch Eltern oder Großeltern: wenn Ihr ein Suchtproblem habt (und das beginnt viel früher als sich die meisten Süchtigen eingestehen möchten oder können) dann kümmert Euch BITTE um Euch und lasst nicht zu, dass sich Eure Kinder oder Enkel – egal wie jung oder schon alt – sich um Euch kümmern und sorgen müssen! Diese Last zu tragen, ist so sehr das Leben beeinflussend und wer seine Kinder liebt, sollte ihnen das bitte nicht zumuten!
Und jetzt brauche ich einen Kaffee! Meine Sucht.