2017-06-23

Scham

Wann habt Ihr Euch das letzte Mal geschämt? Also für Euch selbst? Weil Ihr etwas getan, gedacht oder gesagt habt?

Mir passiert das … nicht so selten. Womöglich aber sind auch die Ansprüche, die an mich selbst stelle, keine kleinen. Zum Beispiel muss ich mich ständig korrigieren, einfach weil ich ab und zu in alte Denkstrukturen verfalle, die ich längst habe hinter mir lassen wollen. Was mir aber nicht zufliegt, denn natürlich bin ich ein Produkt meiner Umwelt und meine frühere Umwelt hat eben anders gedacht als ich es über die Jahre später besser und anders vermittelt bekommen habe und dennoch bin ich vorher geimpft worden und bekomme die restlichen Spuren dieses Impfpräparates immer noch nicht ganz aus dem Körper und so passiert es, dass ich manchmal einen Gedanken habe, ganz passiv gedacht, den ich dann aktiv aus dem Gehirn schubsen muss, weil mein heutiges Ich ihn gar nicht denken möchte aber mein altes Ich mir einen Streich spielt. Geimpft.

Und dann schäme ich mich.

Oder neulich, da habe ich mich auch geschämt. So richtig geschämt. Weil ich angepasst war, fremd gesteuert. Mich in einer von z. B. einer Fernsehkultur ganz merkwürdig auf kulturelle Verhaltensweisen angepassten Meinung wiedergefunden habe, die ursächlich einfach falsch ist, nur falsch sein kann. Und da war ich schon auf dem Weg falsch zu handeln. Bis mir dann auffiel, dass hier etwas ganz falsch läuft und ich nur noch halb korrigieren konnte – aber dann da erst mal saß mit meiner Scham. An einem hellen, sonnigen, sehr heißen Tag. An einem fast perfekten Strand, an einem perfekten Meer in einem perfekten Moment. Bis meine Scham sich auf meiner Liege gemeinsam mit mir breit machte, ihre Nähe mir den Schweiß am Körper entlang liefen ließ und wir beiden gemeinsam aushalten mussten. Scham im Arm unter dem Sonnenschirm.

Und das kam so:

Ich war also in diesem Italien. Und so schön dieses Apulien eben auch ist, so zeigt es hier und dort eben auch genau jene Probleme, die wir hierzulande zu sehen bekommen. Menschen, aus fernen Ländern in eine bessere Zukunft flüchtend und damit ist nicht alleine eine wirtschaftliche bessere Zukunft gemeint, sondern überhaupt nur in eine Zukunft. Wer ab und an die richtigen Zeitungen liest, die richtigen Fernsehsender sieht, also solche, die schon lange auf Probleme anderer europäischer Länder mit Flüchtlingen aufmerksam machten, lange bevor Syrien ein Thema überhaupt war, der weiß, dass Italien schon sehr lange der Ort ist an dem Flüchtlinge anlanden, die sich aus Afrika auf den weiten Weg gemacht haben. Der kennt deren Lebensumstände, illegal, in Wäldern lebend. Seit Jahren. Sich mit irgendwelchen Jobs ein Leben zu verdienen versuchen, dort, in einem Land in dem ganze andere Menschen auch arbeitslos sind ohne Flüchtling zu sein, nicht die Landessprache zu sprechen.

Und so wird man als Journalist durch Apulien im klimatisierten Bus gefahren und man sieht sie stehen, an den Landstraßen, die hübschen Frauen, dunkelhäutig mit bunten Perücken, die dort das besondere visuelle Merkmal für eine öffentliche Dame zu sein scheinen. Mit hochgeschnürtem Dekolleté und kurzen Röcken stehen sie da den ganzen Tag in der prallen Sonne ungeschützt an Zufahrtsstraßen und signalisieren die Bereitschaft sexuelle Dienstleistungen anzudienen. Und bei aller – oder eben wegen aller – Aufklärung hat man ein Gefühl, diese Frauen sind ganz sicher nicht aus ihrem Land in eine ferne Heimat geflohen mit einer Vorstellung dort jemals im Straßenstaub in der Hitze auf unbequemen Schuhe zu stehen, die in dieser Landschaft unwirklicher nicht wirken könnten, und die sexuellen Vorlieben ihnen unbekannter Männer zu bedienen.

Und später als uns unser Ausflug an das Meer führt, wo wir wieder mit dem klimatisierten Bus bis fast an das Meer heran gefahren werden und uns vom Veranstalter die Liegen und Sonnenschirme bezahlt werden, damit wir dort drei Stunden eintauchen dürfen in das herrliche Nass, uns wie Touristen fühlen dürfen, die Wärme unter dem schützenden Schirm ganz gut aushaltend, da laufen dann dort die männlichen Pendants durch den Sand. Den ganzen Tag lang auf und ab in der Hitze, Tücher schwenkend, die mit orientalischen Motiven oder Strickbikinis ein bisschen heile kommerzielle Welt versuchen zu verbreiten. Die mit geschultem Blick sofort erkennen, wo ein Tourist gerade etwas interessierter auf das jeweilige Stück Stoff guckt und dann direkt auf diese zustürzen, immer eine Nummer zu überbereit und mit sehr gebrochenem Italienisch ihr zu verkaufendes Hab und Gut sofort auf die Liegen packen, magere Vielfalt offenbaren und ihre Produkten andienen.

Ich hatte die Männer natürlich schon vorher betrachtet und ihre Anwesenheit hatte die für mich organisierte Übersetzerin und mich längst in eine Diskussion über die Flüchtlingssituation in Italien und Deutschland manövriert, ein kleines bisschen absurd wirkten wir beide in diesem perfekten Moment, dabei ein Eis essend und jeder lernte vom anderen etwas über die Sozialleistungen des anderen Landes.

Da kam ein Mann heran, der eine dieser Decken in der Hand hielt, die bei mir sämtlich Konsumampeln ohne Zwischenphase auf grün stellte: Elefanten in rot und schwarz auf einer blau, fast türkis wirkenden Decke mit Ornamenten. Und während ich sie schon lautstark aus der Ferne bewunderte, fragte ich meine Begleitung, was diese Decke wohl kosten würde und sie antwortete „Die meisten nehmen 15 Euro aber Du musst handeln!” und ich fragte, was man generell so bezahlen solle, was sie mit dem Tipp von üblicherweise zehn Euro zurück gab.



Handeln. Ja. Nun ist bekannt, dass in Ländern mit reichen Touristen ein Handel floriert, weil die einen schöne Dinge haben, die in der Sonne und Urlaubslaune viel heller leuchten, schöner strahlen und plötzlich ganz wichtig zu besitzen scheinen. Und Menschen diese Dinge anbieten, die oft Designnamen tragen, dessen Hersteller nichts mit ihnen gemein hat, man verkohlt wird, man diesen Straßenhändlern nichts glauben soll, dass die Ware, die sie verkaufen viel zu teuer sind für im Vergleich … ja zu was eigentlich im Vergleich? Weil eine Porsche-Brille am Strand gekauft für sehr wenig Geld gar keine originale Porsche-Brille ist? Das wissen wir doch mittlerweile wohl alle, dass wir ein Fake kaufen – so bewusst – dass man nun wirklich nicht mehr sagen kann, man wäre dabei einem Fake aufgesessen.

Aber dieses Produkt hier am Strand ist da und es wurde produziert. Und es wurde genauso von Menschen doch auch produziert wie wohl auch die hochwertigeren Produkte, denen zumindest die ordentlichen Verträge erlauben unter einem echten Designernamen vertrieben zu werden, was längst nicht mehr heißen muss, dass sie aus hochwertigerem Material oder unter besseren Arbeitsbedingungen wirklich produziert worden sind.

So hatte also der dunkelhäutige Deckenverkäufer an diesem Strand natürlich sofort entdeckt, dass sich zwei Frauen über ihn und seine Ware unterhielten und steuerte direkt auf uns zu einen Psalm italienischer Worte auf uns niederprasselnd, die ich mit etwas Englisch abwerte, während meine Begleitung, denn ich hatte im Vorfeld meinen Kaufwunsch ihr gegenüber geäußert (Elefanten! Auf türkisfarbiger Decke!), anfing mit ihm in das übliche Preisritual der Strandgeschäfte einzusteigen, sinngemäß: „Was soll die Decke kosten?” „Fünfzehn Euro.” „Ah, das ist zu viel! Wir zahlen zehn Euro!” „Nein, das ist zu wenig, zwölf Euro.” Und dann machte er relativ schnell klar, dass er seine zwölf Euro sich nicht unterbieten lassen würde. In der Zwischenzeit zeigte er mir alle verfügbaren Elefantendecken, die er bei sich führte – bzw. andere Motive. Aber die interessierten mich alle nicht, weil ich doch nun mal meine Liebe längst den rot-schwarzen Elefanten auf der türkis gefärbten Decke geschenkt hatte – was er nicht wissen konnte. Und weil er so früh uns diktieren wollte, dass er unter zwölf Euro sich nicht handeln lassen wollte, sagte ich leicht arrogant „Okay!” und gab ihm all die Decken zurück, als Zeichen, dass ich nicht für zwölf Euro kaufen wollte. Was er aber missverstand und mein „Okay!” als Zusage missdeutete.



Und da – ganz plötzlich – es schoss mir wie ein Blitz in den Kopf, da schämte ich mich! Auf so vielen Ebenen, die kann ich Euch gar nicht alle erklären. Ich schämte mich, weil ich überhaupt gehandelt hatte, denn was ich da in den Händen gehalten hatte, das war kein leichtes Badetuch, das man sich um den Körper wickelt. Es war eine feste, dicke und sehr große, aus einer dichten schweren Baumwollen, fast Leinen, hochwertig bedruckte Decke – und diese Decke war deutlich mehr als nur 15 Euro wert. Mir wurde klar, was das für ein – im Grunde – mieser Preis schon war, denn es war eben gar kein mangelhaftes Produkt aus billigem Stoff.

Diese Decke war ihr Material wert, sie war ihre kunstvolle Gestaltung wert, sie war es verdammt noch mal wert, dass man dies alles bezahlt: dass man die Menschen bezahlt, die die Baumwolle ernteten; dass man die Menschen bezahlt, die den Stoff webten, dass man die Menschen bezahlt, die in den Ländern in der giftigen Kloake stehen, wo solche Stoffe gefärbt und bedruckt werden, dass man die Menschen bezahlt, die für den Transport sorgen, dass man die Menschen bezahlt, die den ganzen Tag im Kaftan an Stränden hoch- und runter laufen müssen in sengende Hitze und auf die Blicke von Touristen achten müssen oder Handzeichen erkennen müssen, um sich jedes Mal dieses gottverdammte Spiel einer Pseudohandelei geben müssen, nur weil in irgendwelchen Tourismusführern steht, man sollte ja bloß handeln, sonst würde … ja, was eigentlich? Würden diese Menschen nach Hause gehen und sagen, „die waren so blöd und haben diese hochwertige Decke immer noch viel zu billig für den Einstiegspreis von 15 Euro eingekauft?

Ich habe mich geschämt, weil ich im Grunde ab dem Moment in dem ich den Stoff das erste Mal berührt hatte, hätte sagen müssen „Hier, da sind die 15 Euro!” und gut ist es, weil ich – spätestens seit ich selber nähe – doch weiß, was ein guter Stoff kostet. Und dass 15 Euro für 2 x 2 Meter einfach spottbillig sind. Und ich weiß, dass ich in den dementsprechenden Läden hier in Berlin für Decken ähnlicher Qualität mindestens das Fünffache ausgeben würde.

Ich habe mich geschämt, auch weil für mich 15 Euro durchaus 15 Euro sind aber ich eben in der glücklichen Lage bin in einem Land in einem Wirtschafts- und Sozialsystem zu leben, wo man 15 Euro haben kann, weil man überhaupt Geld erhält – was in anderen europäischen Ländern nicht der Normalfall ist und da gehört Italien durchaus auch dazu. Wo man trotz aller Not ein Zuhause haben kann. Von meinen persönlichen glücklichen Umständen diese Reise überhaupt machen zu dürfen, dort am Strand zu liegen, in diesem wundervollen Meer zu baden, ganz abgesehen.

Man, habe ich mich geschämt! Und dann habe ich mich nicht einmal getraut ihm doch die 15 Euro zu geben, weil ich ihm meine Gedanken so in der Kürze gar nicht hätte erklären können, meiner Begleitung auch nicht und ich Sorge gehabt habe, ihn eventuell dann auch noch in seinen Stolz zu verletzen.

Ich möchte mich nicht mehr schämen müssen, nur weil irgendwo steht man solle in fernen Ländern bloß handeln, weil man das eben so tut oder weil man angeblich für sein Geld keine Qualität erhält. Doch man erhält Qualität! Man erhält immer etwas für das andere Menschen geschwitzt, gearbeitet und gelitten haben – und am Ende noch dafür am wenigsten etwas zurück gegeben bekommen.

Tally liebt die Decke übrigens auch so wie ich. Diese Elefanendecke kann so viel bewegen: Katzen glücklich machen, Menschen sich schämen lassen, Menschen demütig machen, sie zum Nachdenken bringen, Entwicklungen bei ihnen anstoßen.

4 comments:

trippmadam hat gesagt…

Ja. Jedes einzelne Wort.

tiker hat gesagt…

Ja.

zazou1312 hat gesagt…

Danke

MonikaZH hat gesagt…

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