2006-09-23

Schwer zu begreifen

die Blogeinträge zweier Blogbesitzer: Die nachtschwester schreibt in ihrem Blog nachtaktiv von einem Herz-Patienten, dessen medizinische erst- und dann drittklassige Versorgung zu Herzen geht.

Und Linda, Bloggerin und Autorin beim Hauptstadtblog hatte sich letzten Sonntag öffentlich darüber Gedanken gemacht, dass in ihrem Wahlbezirk Behinderte nicht ganz so einfach wählen konnten. Dieser Beitrag hatte im Vergleich zum üblichen Hauptstadtblog-Kommentardurchschnitt recht regen Zuspruch.

Kommentare, die mich nachdenklich stimmen.

Ich habe mir selber natürlich früher wenige Gedanken über den Alltag von Körperbehinderten in der Stadt gemacht. Obwohl ich sicher noch zu den höflichen umsichtigen Menschen gehöre, die auch dank einer medizinischen Ausbildung einen geschulten Blick für die Mitmenschen haben, die gesundheitlich nicht so priveligiert sind wie ich. Bis ich 2003 bei einem Radumfall (einem sehr unspektakulären übrigens) in dieser einen lächerlichen Sekunde, die es braucht, bis ein Knie einmal ungebremst auf den Asphalt aufknallt, mein linkes Knie einmal komplett durch den Mixer gejagt hatte. Und bis zur OP zwei Wochen an Gehhilfen und danach zum Glück nur noch zehn weitere Tage mit Gehhilfen, aber acht Wochen mit Knieorthese herumlaufen mußte. Bereits eine Woche nach der OP habe ich mir verboten Fahrstühle oder Rolltreppen zu nutzen, bin – nicht nur des Trainings wegen – immer Treppen gestiegen: es war mir aber auch zu doof auf diese technischen Hilfsmittel, die meist nicht funktionierten, angewiesen zu sein.

Das war eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Ich bin groß gewachsen, ich bin sicher auch noch relativ attraktiv anzusehen. Jedenfalls attraktiver als über 60jährige kranke Menschen, die vielleicht sogar noch übergewichtig sind und die im Grunde in dieser Gesellschaft keiner sehen möchte. Ich aber bin keine Person, die man auf der Straße leicht übersieht. Mir will man gelegentlich noch helfen, ich habe nicht dieses Stigma „alt, unbrauchbar oder selber schuld an ihrem Zustand“ auf der Stirn kleben. Ich trete selbstbewußt auf. Ich kann Menschen, die sich mir in dieser Situation wie Arschlöcher verhalten haben, binnen zehn Sekunden so zusammen stauchen, dass sie heulend das Weite suchen. Zumindest danach wissen, was sie hätten besser machen können. Ich war krank, gehbehindert aber in besonderem Maße priveligiert.

Im öffentlichen Leben auf Fahrstühle, Rolltreppen, Mithilfe angewiesen zu sein. Auf Verständnis. Auf Menschen, die hinsehen, auf Menschen, die agieren. Nur eine ganz ganz kurze Zeit habe ich mein Umfeld unter diesen Vorzeichen erleben müssen – im Vergleich zu den Menschen, die das seit ihrer Geburt oder den Rest ihres Lebens tun müssen. Ich war bedient.

Ich kann bei defekten Rolltreppen und Fahrstühlen in den öffentlichen Verkehrsbetrieben anfangen, die Rollstuhlfahrer auf Bahnhöfen gefangen halten. Ich kann von Busfahrern erzählen, die zwar bei sich vorne einen Menschen an zwei Gehhilfen kriechend einsteigen sehen (d.h. der keine Chance hat, sich irgendwo festzuhalten) und sich nicht einmal die Zeit nehmen, bis dieser Mensch einen Sitzplatz einnehmen konnte – und zudem extra scharf anfahren. Ich kann Geschichten erzählen, von Menschen, die der Meinung sind, derjenige an den Gehhilfen hätte ihm eigentlich auszuweichen auf dem Trottoir. Von Türen, die mir nicht aufgehalten wurden (eine grundsätzliche Unsitte), generell von den Sitzgelegenheiten, die mir nie angeboten wurden. Von unzähligen nach 1989 gebaute Häusern mit Restaurants und Cafés, deren Toiletten nur über Treppen in den Keller zu erreichen sind.

Wie gesagt, ich bin für die Erfahrung ganz dankbar. Sie haben mich noch mehr sensilibisiert für die Menschen, die weniger Glück als ich haben.

Allen die meinen, ein Wahllokal müsste nicht zwangsläufig barriefrei und somit für Behinderte überhaupt, geschweige denn problemlos zu erreichen sein, wünsche ich nur zwei Wochen mit Gehilfen und der Unfähigkeit, eines ihrer Beine nicht einmal zu 10% belasten zu dürfen.

5 comments:

Kirsten hat gesagt…

Ich hab sowohl die Geschichte als auch die Kommentare gelesen, und mich hats geschüttelt. Ich kenn solche Situationen von meinen diversen Sportverletzungen her und bin auch bedient. Aus dem Bus lassen einen, die, die reinwollen, ja eh schon kaum aussteigen - dass die junge Frau sich dann aber noch am Geländer festhalten muss, weil die Bänderdehnung den Fuß um das Doppelte hat anschwellen lassen - das ist schon mal gar nicht einzusehen. Zum Glück kann ich da aber auch gut pöbeln - wohl, weil ich (hoffentlich) eben nur alle paar Jahre mal in einer solchen Situationo bin. Hätte ich den Ärger jeden Tag, weiß ich nicht, ob ich dazu noch die Energie hätte.
Eine Freundin von mir musste sich mal anpöbeln lassen, weil ihr Fahrer im Halteverbot hielt. Die Pöbelei ging auch weiter, als die Dame die Krücken gesehen hat. Meine Freundin erklärte dann nur ganz ruhig: "Ich wünsche Ihnen genau die Krankheit, die ich auch habe."
Ich glaube, anders raffen die Leute das nicht.

creezy hat gesagt…

Ja eine ähnliche Szene hatte ich mit meiner Mutter. Wir haben uns mit dem Auto auf den Behindertenparkplatz des Discounters gestellt. Das Auto, geliehen, hatte natürlich keine Plakette. Also stürzte sofort so ein Keifwunder auf uns zu, um in einem unfassbaren Tonfall zu erklären, dies sei der Parkplatz für Behinderte. Ich war beschäftigt den Rollator aus dem Auto zu bugsieren, währenddessen versuchte meine Mutter am Stock dem Auto zu entsteigen …

diese tolle soziale Frau, eine Sekunde vorher noch offensichtlich selbsternannte Behindertenpolizei gewesen, brachte es aber nicht über sich meiner Mutter beim Aussteigen behilflich zu sein …

(Wobei ich auch ganz gerne die Fahrer dieser (meist sehr protzigen) Autos frage, die gerne quer auf Behindertenparkplätze stehen, wo denn ihre Behinderung sei, ich könne die gar nicht sehen. Und dann suffisant anmerke, „ach, die muss wohl im Kopf sein liegen“ ;-)

Anonym hat gesagt…

Sehr interessante Kommentare hier, Geht aber alles am Thema vorbei!
Ursprünglich ging es um die behindertenfreundliche Zugänglichkeit zu Wahllokalen in Berlin. Die Kommentare wurden immer emotionaler und nun geht es nur noch um die schwierige Bewältigung des Alltags durch behinderte Menschen im Allgemeinen in einer nicht vollständig behindertenfreundlichen Gesamtgesellschaft.
Ich glaube, dass viele Behinderte nicht die Probleme haben wir ihr sie hier beschreibt. Ansonsten wird es bei einigen Leuten Berührungsängste geben und dann reagiert man oft negativ. Wenn man mit der Einstellung rumläuft: "mir geht es schlecht, das sehen doch alle und die sollen mir gefälligst helfen" wirkt das nicht sympatisch. Das ist meine Meinung. Um nicht falsch verstanden zu werden: behinderte Menschen werden von mir unterstützt!

creezy hat gesagt…

Na so ist es nicht ganz, hier in diesem Thread ging es per se nicht so sehr um die Barrierefreiheit von Wahllokalen, das war ebenso wie der Link zur Nachtschwester nur das Entry. Diese Themen wurden in ihrer Thematik in den verlinkten Blogs diskutiert. Nicht hier. 80 % diees Blogtextes machten dann doch die Beschreibung meiner Wenigkeit einer Umwelt unter ungünstigen Bedingungen aus. Rein subjektiv. Insofern sind die Kommentare, denke ich, in ihre rechtmäßige Richtung gegangen und haben ihr Ziel auch erreicht.

Ob nun Behinderte Probleme mit dem haben, was unsereiner als nicht Behinderter sieht oder erfährt, ist dahingestellt. Vermutlich hängt das auch davon ab, welche Behinderung man hat und ab wann man die hat. Möglichweise sind Umstände eher zu akzeptieren, wenn man sie von Geburt an nicht anders kennt? Möglicherweise ist auch ein Leben in unserer Umwelt mit einer Behinderung mit mehr oder wenigen finanziellen Hilfsmittel anders zu erleben.

Und natürlich haben die allerwenigsten Behinderten Probleme mit zugestellten LIDL-Parkplätzen. Da gebe ich Dir Recht! Wie sollten sie auch, die wenigsten von ihnen können sich die Umbauten von Behindertenautos noch leisten – und LIDL Supermärkte scheiden schon alleine von der Eingangsarchitektur her komplett für z. B. Rollstuhfahrer als Einkaufsmöglichkeit aus. Die richtigen Elektrofahrstühle passen nicht durch die Kassen bei LIDL, eine Klingel für einen Behindertenzugang gibt es nicht …

Anonym hat gesagt…

Welche Kommentare stimmen dich denn besonders nachdenklich? Schließlich hast du dich sehr allgemein darauf bezogen.

Es wird leider keine perfekte Welt geben, nicht für behinderte, nicht für nicht rauchende und auch nicht für Rad fahrende Menschen. Jeder stellt sich hin und klagt über seine Unzufriedenheit, berücksichtigt aber nicht die Interessen und Probleme der anderen. Es fällt ja auch schon schwer den politisch anders Denkenden zu akzeptieren.

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