Als S. 2011 die Nachricht von ihrem Brustkrebsrezidiv erhielt, was kein echtes Rezidiv war, weil es sich um eine andere Art von Tumorgeschehen handelte, war in dieser Aussage gleichfalls die Zukunftprognose, dass es nun nicht mehr um Heilung ginge, sondern nur noch darum ginge wie lange sie noch hätte. Es gab eine Prognose von ca. drei Jahren, wenn's gut ginge. Die hatte sie – das wissen wir heute – dickschädelig und so unglaublich tapfer, wie sie war, maximal getoppt.
Sie stieg in die Behandlung ein und gönnte sich in der Zeit bis auf wenige Wochen*, in denen sie noch verreiste, keine Ruhe vor den unterschiedlichen Chemotherapien und Bestrahlungen und lebte mit sehr unterschiedlichen Nebenwirkungen von Herzinsuffizienz bis das Leben beeinträchtigenden schweren Husten. (*Stimmt gar nicht, wie mich heute ihr Ehemann erinnerte, beide sind sogar noch nach Japan gereist, da htte sie die Chemo in Kühlboxen dabei, vorab geklärt mit der Fluggesellschaft.) So hielt sie aber eine ganze Zeit die Metastasen in Schach und vor allem denen bei der zweiten Diagnose schon festgestellten Lungenmetastasen, zeigte sie derweil, wo der Hammer genau hing.
Ihre Devise war, dass sie leben wollte, jeden einzelnen Tag und während sie bei der Ersterkrankung noch im Falle eines Falles vom Schweizer Modell sprach, war hier nun, bei dieser neuen Erkrankung ein selbstbestimmtes Gehen keine Option mehr für sie. Sie wollte jeden verdammten Tag für sich. Sie lebte so von Urlaub zu Event, genoss die Feste wie sie fielen, gönnte sich Ruhe oder auch nicht – machte alles mit, was ihr seitens der Medizin so etwas wie einen Aufschub versprach. Vorrangig aber stellte sie sich dem Krankheitsverlauf sehr unbequem in den Weg und ließ einfach nicht so einfach mit sich machen, was der Herr Krebs mit seinen Mitläufern so von ihr wollte.
S. ist schuld, dass der Krebs von nun an mit seinen dritten Zähnen durchs Leben schleichen muss. Er hat sie sich an ihr einfach ausgebissen.
Als die ersten Hirnmetastasen diagnostiziert wurden, entschied sie sich für die Bestrahlung. Ungeachtet der Tatsache, dass niemand weiß, was diese Behandlung mit einem macht – denn spurenlos lässt man sich halt keine Löcher ins Hirn fräsen. S. sprach über ihre Ängste und ging dann dadurch. Eine Zeitlang sogar sehr erfolgreich. Es gab geringe mentale Ausfälle, die seitens des Ärzte als eine Folge der Behandlung – jedenfalls nicht als Ausfall hervorgerufen durch die Metastase – befundet wurden. Damit konnte und wollte sie leben. Das war ihr persönlicher Opfergang für jeden einzelnen Tag mehr auf dieser Welt.
In dem letzten Jahr hatte sie zunehmend neurologische Ausfälle, die ihr das Sehen und vor allem die Mobilität erschwerten. Erst half ein Rollator, dann der Rollstuhl; die Stürze in der Wohnung wurden häufiger. Wohnungsumbauten: Schwellenbeseitigung, eine begehbare Dusche. Ein Krankenbett in der Version „chic”! (Die Dinger sind heute nämlich ins normale Ehebett integrierbar.) Sie verbrachte mehr Zeit im Bett, sah TV und häkelte; bis auch das immer schwieriger wurde. Ihr Sprachzentrum ging langsam seine eigenen Wege. Sie die wenigen Treppen runter- und wieder hochzubekommen, war kein Kinderspiel. Die Aufenthalte in der Wohnung ohne Unterbrechungen nach draußen, von Arztbesuchen abgesehen, wurden länger
Im Sommer letzten Jahres wollte ihr Onkologe die Therapie einstellen, woraufhin sie ihm den Marsch blies und beiden befahl weiterzumachen. Während wir fürchteten, dass sie 2015 nicht überleben würde, feierte sie mit uns kurz vor Weihnachten ihren 50. Geburtstag. Ein Ereignis zu dem wirklich alle kamen, selbst mittlerweile in Australien lebende Schulfreunde und wir sie hochleben ließen. Das war ein schöner und trauriger Abend zugleich. Sie hielt brav bis Mitternacht durch, als wir alle mit erstickter Stimme „Happy Birthday” sangen. Ein Moment bei dem mir heute noch die Gänsehaut unter die Kleidung kriecht. Sie hat's genossen, ging irgendwann um ein Uhr ins Bett und war nur am nächsten Tag betrübt, dass sie irgendwann einen Filmriss hatte.
Im Dezember heiratete ihr ältester Berliner Freund und Trauzeuge und bat sie seine Trauzeugin zu sein. Zu der Hochzeit begleitete ich sie, der Rollstuhl wollte mittlerweile geschoben werden. Silvester feierten wir zusammen, da fiel ihr langsam das Essen schwer.
Vor ca. drei Wochen entschied ihr Arzt, die Therapie zu beenden. Das aktuelle CT zeigte eine Übermacht an Metastasen im Gehirn, eine besonders linkes Ding hatte sich am Hirnstamm breit gemacht. Es gab eine Prognose von einigen Tagen bis wenigen Wochen. Die Hirnstammmetastase ließ keine echte Prognose zu dem „wie?” zu. Sie hatte von nun an viel zu tun, denn die Freunde von ihr kamen, um sie zu begleiten.
In ihrer Sterbewoche, die am 5. März begann, war sie Montag und Dienstag völlig bei Bewusstsein und freute sich über jeden Besuch. Am Montag hatte sie ihr Mann A. sogar noch mal für 30 Minuten in den Rollstuhl setzen können, so dass sie mit uns Kaffee und Kirschstreuselkuchen essen konnte. Sie hat sogar ein klein wenig davon gegessen, später im Bett nochmals. Alleine das Essen fiel ihr mittlerweile sehr schwer, auch wenn das hochdosierte Cortion ihr Hunger machte. Sie mochte die Astronautennahrung trinken, die ihr A. ihr servierte. Sie wollte uns viel erzählen, auch wenn wir Deppen sie nicht mehr wirklich verstehen konnten. Aber sie hatte im Rahmen ihres Zustandes Spaß an diesen Tagen, sie freute sich sichtlich, wenn man ihr beschrieb, was die Katzen so trieben. Sie freute sich über die Freunde, die kamen und lange blieben – auch wenn sie das anstrengte. Dienstag brachte ich ihr noch selbst gemachte Rote Grütze und Vanillesauce rum. Auch darüber freute sie sich sichtlich und hatte nach ihr verlangt und eine erstaunliche Portion gegessen. Sie mochte die letzten beiden Tage, an denen sie bei Bewusstsein war, offensichtlich sehr und hat ihr Leben genossen.
Ab Mittwoch war sie eigentlich kaum noch ansprechbar. Sie schlief sehr viel und bekam sehr hohes Fieber. Erst wurde eine Lungenentzündung diagnostiziert und dementsprechend behandelt, wenn sich später auch herausstellte, dass dies ein Symptom des beginnenden Organversagens im Verlauf der Sterbephase war. Mittlerweile war zur – bereits seit Monaten aktiven – Pflege für sie die Palliativversorgung bestellt. Von nun an bekam sie ein hochdosiertes Beruhigungsmittel, das ihr die innere Unruhe und Angst vor dem Gehen nehmen sollte. Sie erhielt oral Morphin, das die nächsten Tage dann höher dosiert injiziert wurde. Da sie nun nicht mehr selbstständig essen konnte, griff ab diesem Moment ihre Patientenverfügung in der sie eine künstliche Ernährung für sich ausgeschlossen hatte. Ihr wurde ein Zugang gelegt über den sie mit Flüssigkeit auf einer geringen Infusionsgeschwindigkeit versorgt wurde, damit sie trotz der eingestellten Versorgung keinen Durst in den kommenden Tagen erleiden musste. Während der akuten Fieberphase erhielt sie etwas mehr Flüssigkeit, um sie nicht durch die Folgen des Fiebers zu quälen, dies wurde aber seitens des Arztes wieder runter geregelt, sobald das Fieber halbwegs im erträglichen Bereich lag. Und sie empfing Besuch von Freunden, wie auch in den kommenden Tagen.
Die Pflege kam mindestens drei Mal am Tag, um sie zu versorgen. Es gab einen Notdienst, den wir jederzeit rufen konnten, wenn Dinge außer der Reihe geschahen, z. B. etwaiges Krampfverhalten, damit man damit a) nicht alleine war und b) ihr sehr schnell geholfen werden konnte. Der Palliativarzt war jederzeit rund um die Uhr für sie und A. erreichbar. Die Pflege hielt jedes Mal nachdem sie vor Ort waren mit ihm Kontakt, um so beim nächsten Pflegezyklus seine Anweisungen, wie z. B. Erhöhung der Medikamente, umzusetzen. So war er – trotz physischer Abwesenheit – stets präsent, was uns viel Ruhe schenkte. Seitens des Pflegedienstes war man auch sehr bemüht, ihr jetzt nur noch die beiden Pflegerinnen zu schicken, die S. am liebsten mochte. Ansonsten war S. in der Zeit und in den Nächten liebevoll von ihrem Ehemann und ihrer Schwester versorgt. Ich versuchte so viel Zeit wie möglich auch da zu sein, um die Beiden zu unterstützen – und um bei S. zu sein, wenn die beiden es nicht konnten.
S. hatte zu ihrem Sterben eine sehr pragmatische Einstellung, die sie schon durch ihre ganze Krankheit getragen hatte: „Arschbacken zusammen kneifen und durch.” Sie wollte aber nicht alleine sterben. Das war also der Deal, sie nicht alleine zu lassen. So saßen wir da diese letzten Tage, lüfteten regelmäßig, kühlten Gesicht und Hände und beguckten ihren Brustkorb, an dem sich der Sterbeverlauf noch am ehesten abzulesen ließ. Nebenbei lief im Fernseher »Criminal Minds«. S. liebte Splattermovies und Krimiserien, so hatte sie ihre bewusste Zeit verbracht. So tat sie das auch die letzten Tage. Und wir sprachen in dieser Zeit mit ihr als wäre sie bei uns und bei Bewusstsein. Abends saßen wir bei ihr mit einem Getränk unserer Wahl (Alkohol oder auch nicht) und guckten zusammen mit ihr Krimis. Das tat immer gut so mit ihr zu sein.
Ganz selten gab sie noch – außer des geräuschvolleren Atmens – Töne von sich. Vorrangig während der Pflege, wenn sie umgelagert werden musste. Selten öffnete sie dabei die Augen, die dann aber schon verdreht waren. Das war ihr unangenehm, der Dekubitus machte nun zu schaffen – aber eine andere Lagerung hätte ihr das Atmen erschwert und das wäre vorrangig für sie unangenehmer gewesen. Es war sehr deutlich zu merken, dass sie, solange sie nicht bewegt wurde, wirklich gar keine Schmerzen hatte. Einzig das Atmen strengte sie manchmal an. Sie schlief einfach sehr viel und tief.
Am Freitag wurde ihr Atmen angestrengter. Zunehmend. Sie hatte schon seit Monaten unterstützend eine Luftversorgung im Haus, die sie über die Nase mit Sauerstoff versorgte. Diese Versorgung erhielt sie natürlich weiterhin. Freitag war an ihrem Atmen sehr deutlich zu spüren, dass sie in die finale letale Phase eingetreten war. Die Schnappatmung, die am Mittag erst jeden 16. Atemzug auftrat mit einem abschließenden Atmenaussetzer von mehren Sekunden, kam am Abend nach dem letzten Pflegeintervall mit jedem Atemzug. Bei jedem zweiten Atemzug hatte sie sehr lange Atemaussetzer, die ein wenig an unseren Nerven kratzten. Wir hielten es für sehr wahrscheinlich, dass sie den Samstag nicht mehr erleben würde.
Freitag haben wir ihr gesagt, dass ihr Vater (der nicht in Berlin wohnt und schon hochbetagt ist) nicht mehr kommen könne und sie bitte nicht auf ihr warten solle. Freitag haben wir ihr auch gesagt, dass es nun definitiv dem Ende zugeht, dass sie loslassen darf. Wir haben ihr gesagt, dass sie nun gut versorgt ist, dass wir sie nicht mehr alleine lassen würden; dass immer jemand bei ihr sein würde und sie keine Schmerzen haben würde und dass sie einfach einschlafen würde unter der medikamentösen Versorgung. Wir haben versucht, ihr die Angst zu nehmen. Diese Dinge auszusprechen, das war nicht leicht. Aber S. wollte immer und zu jeder Zeit über ihren Zustand informiert sein und dann musste wir eben für sie stark sein. Sie wurde ruhiger. Die Medikamente machten einen guten Job.
Samstag empfing sie nochmals zwei liebe Freundinnen, da atmete sie nur noch flach und ruhig. Sie öffnete wohl auch noch mal die Augen – ob sie das im Bewusstsein tat oder ob das einfach nur die Phase war in der der zusammenbrechende Kreislauf, die in der Folge mangelnde Sauerstoffversorgung des Gehirnes die Menschen noch einmal ihr Leben erleben lässt – das weiß keiner. Dies ist übrigens eine Phase in der Sterbende noch ein letztes Mal erstaunlich körperlich aktiv werden können, sich sogar wieder aufsetzen im Bett und die Beine baumeln lassen. Sie sind dann nicht mehr ansprechbar aber man soll sie um Himmelswillen das machen lassen und sie nicht in Positionen festhalten („fliegende Arme” fliegen lassen), weil sie sonst innerhalb des Sterbeprozesses auch noch mal gefangen sein könnten und er sich dann unnötig lange hinzieht, hatte mir eine Freundin, die in der Hospizbetreuung arbeitet, erklärt.
Sonntag früh zwischen sechs und sieben Uhr ist S. neben ihrem Mann ganz sanft entschlafen.
Ich durfe S. danach noch einmal besuchen und mich bei ihr bedanken und verabschieden. Mir ihr einen letzten Kaffee trinken. Sie lag ganz friedlich in ihrem Bett, die Spasmen der letzten Wochen, die ihre Körperhaltung so beeinflusst hatten, waren gänzlich verschwunden. Sie lag gemütlich da, als würde sie schlafen. Im Gesicht war sie etwas schmaler geworden über die letzten Wochen und finalen letzten Tagen, weil sie nicht mehr viel gegessen hatte. So sah sie wieder mehr aus wie die S. bevor die hohen Cortisondosen sie äußerlich sehr veränderten. Sie sah wieder richtig schön aus, so wie sie einfach war: eine sehr schöne Frau!
Ich selbst erachte es als sehr wichtig noch einmal Abschied nehmen zu können im Tod. Es ist nicht der gleiche Abschied wie im Leben. Es tut gut jemanden anzusehen, dass er nun gar keine Qualen mehr hat. Wenn man es einmal gemacht hat, ist es im Rahmen der Trauer unbeschreiblich hilfreich.
Der Arzt kam die notwendigen Formalitäten zu erledigen, damit der Haustod nicht der Polizei gemeldet werden musste. Es kam sogar noch eine ihre liebsten Pflegerinnen, um sie anzukleiden, obwohl diese gar keinen Dienst mehr hatte. Mittags wurde sie dann vom Bestatter abgeholt.
Ihr Ehemann hatte ihr ermöglicht ihre letzten Tage so leben und dann so gehen zu dürfen, wie sie es wollte. Die letztendliche Entscheidung hatte sie immer ihm überlassen, denn er musste ja mit diesem Geschehen in der Wohnung weiterleben können. Er hat das durchgezogen, hat sie gepflegt, hat sich den beruflichen und finanziellen Einschränkungen, die so eine Ganztagespflege nötig machen, ergeben. Er war für sie da, geduldig und liebevoll, auch in den Zeiten in denen die Krankheit sie veränderten und natürlich auch gemein und quengelnd sein ließen. Was ihr hinterher immer sehr leid tat. Sie tat das nie mit Absicht. Sie durfte zu Hause bleiben und gehen, sie durfte in ihrer Umgebung sein – obwohl man auch Hospize vorab besichtig hatte – sie wurde umsorgt und gepflegt. Sie durfte bei ihren Tieren bleiben. A. gab für sie sehr sehr viel. Er gab uns Freunden aber auch damit die besondere Gelegenheit, dass wir uns bei ihr zu Hause verabschieden konnten – und nicht in irgendein Krankenhaus oder Hospiz gehen mussten, was das Bild im Abschied doch auch sehr beeinträchtigt.
Ein wahnsinnig starker Akt! Ich ziehe vor A. meinen Hut!
Sie durfte so gehen. Und sie hatte – auch aufgrund ihrer Patientenverfügung – einen selbstbestimmten, schnellen und schlussendlich fast schönen Tod. Das war das, was A. und wir ihr, sie begleitend, geben konnten.
Ich habe das aufgeschrieben, um Euch da draußen zu erzählen, wie friedlich, umsorgt und schön es sein kann, wenn man jemanden zu Hause sterben lässt. Die Palliativversorgung – zumindest in den Städten – macht das heutzutage möglich. Es gehört sicherlich viel Mut dazu und Kraft. Aber was am Ende bleibt, ist das sehr schöne und tragende Gefühl, dass man der Person den Abschied so schön und gut wie möglich gemacht hat – wenn man es kann. Ich hoffe, S. macht Euch für die Zukunft Mut.