Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein Buch geschrieben, einen Roman namens „Noch wach?”, und wie es die Welt der Publizisten will, geht das gerade bei ihm nicht ohne sehr viel Presse und Meinung vorher ab. Tatsächlich aber hatte der Verlag im Vorfeld das Werk nur sehr wenigen Medien zur Rezension überlassen worden, um nicht ggf. juristisch gezwungen vorab die gedruckten Werke schwärzen zu müssen, weil sie zu nahe an der Wahrheit liegen könnten.
Worum geht's? Im Roman werden lt. Rezensionen die Machenschaften in einer großen Chefredaktion beschrieben. Überhebliche Männer, Seilschaften von Kerlen im Amt, Koks, Nutten und wohl auch Nötigung von Frauen im Beruf. Benjamin von Stuckrad-Barre spricht von Fiktion. Ehemalige Chefs und Redaktionsmitglieder (männliche) im Springer Verlag lassen sein Werk anwaltlich prüfen. Im Grunde wird hier vermutlich nichts Neues erzählt werden als das, was seit Jahren durch die #MeToo-Debatte öffentlich wurde, als Realität von niemanden wirklich angezweifelt wurde. Und deutlich zu lange als gegeben hingenommen wurde.
Der Autor hat bekanntlich viele Jahre freiberuflich für die spannendsten deutschen Redaktionen geschrieben (taz, Stern, Rolling Stone) und als Gag-Autor für die Harald Schmidt Show gearbeitet. Polarisierte von Anfang an als gehyptes schreibendes Talent mit großer Liebe zur Öffentlichkeit und hatte später seine persönliche Kokain-Sucht zugegeben, öffentlich thematisiert und bereits niedergeschrieben. Er ist einer von außen, der in der Clique der bekannten Springer Verlag-/Bild Redaktion-Fratzen wohl gelitten war und dem man somit Insider-Wissen wohl unterstellen darf. Er war jung, talentiert, erfolgreich und hat das Spiel Sex, Drugs und Rock 'n Roll mitgespielt, bis er ausgebrannt war. Und für sich die Reißleine gezogen hatte.
Vor diesem Insider-Wissen haben nun bestimmte Herren Angst. So prüfen derzeit die Anwälte von z. B. Julian Springer, sorry, Reichelt (und vermutlich auch Mathias Springer, ups, Döpfner), wie von Reichelts Anwalt bestätigt, sein neues Werk auf zu große literarische Nähe zu ihrem Mandanten. Diese peinliche Blöße muss man sich auch erst einmal geben. Nichts anderes ist man von Reichelt gewohnt.
Nun regt sich das Internet auf, respektive regen sich vor allem Frauen im Internet auf, weil sie dem Autor vorwerfen, er würde sich ihr Thema #MeToo zu eigen machen. Ich finde das nachvollziehbar wie auch schwierig, denn wir können uns sehr sicher sein: Hier geht es um noch so viel mehr als alleine um den Missbrauch von Frauen im Job. Der Machtmissbrauch dieser Männer geht darüber weit hinaus. Haben wir im Fall Döpfner letzte Woche doch erst mitbekommen. Dass seine SMSe passend eine Woche vor Erscheinen dieses Romans geleakt worden sind, gehört eben auch zum Spiel namens Macht. Haben halt jetzt andere die Fäden gezogen.
Lesen wir das Buch doch bitte erst einmal, setzen wir nicht auf Klappentexte und Rezensionen, bevor wir uns über Inhalte aufregen – die wir noch gar nicht kennen können zum allergrößten Teil. Immerhin ist das Buch seit gestern überhaupt im Handel erhältlich. Ich mag diese verfrühte Aufregung nicht, wenn klar ist, dass die allerwenigsten Personen den Inhalt dieses Romans wirklich kennen können.
Und: Ja! Dieses Buch, wollen wir unterstellen, dass es tatsächlich weniger fiktiv ist, als es dem Autor in der Berichterstattung vorab unterstellt wird, kann tatsächlich leider nur ein Mann schreiben. Es tut mir wahnsinnig leid, Frauen können dieses Buch gar nicht schreiben, weil sie in der erlauchten Runde dieser Redaktionen und Geschäftsführungen tatsächlich nur als Verbrauchsobjekte anerkannt waren. Frauen haben hier nie ernsthaft mitgespielt. (Die, die etwas mitbekommen haben, haben sehr sicher Verschwiegenheitserklärungen im Arbeitsvertrag unterzeichnet.)
Alles andere würde auch eher wundern, die verkokste toxische Männlichkeit hätte Frauen in dieser Runde nie Macht eingeräumt. Da braucht es einfach jemanden, der in dieser Runde als Mensch mit Talent aber vor allem Fehlern, hier also jugendlicher Leichtsinn, Sucht nach Öffentlichkeit, falscher Liebe und Drogenkonsum bis zur Abhängigkeit wohlgelitten war. Der auf der anderen Seite miterlebt hat. Selbst Friede Springers einziger aktiver Beitrag war wegzugucken.
Von Stuckrad-Barre jetzt vorzuwerfen, dass er diesen Part übernimmt, als jemand, der in der deutschen Öffentlichkeit aufgrund seines Standing nicht mehr von den Mächtigen weg zu redigieren ist, trifft den Falschen. Schließlich kann er sein Thema aus der Sicht eines Mitspielers, der nahe genug dran war, erzählen. Die (peinliche) Offenheit solcher Männer unter Männern ist einfach die größere, man gönnt sich alle Peinlichkeiten – die man sich Frauen gegenüber nie leisten würde.
Machen wir uns nichts vor, Bücher von Opfern müssen immer auch ein Stück weit anklagen, machen wenig Spaß zu lesen – werden Aufmerksamkeit dieser Art nie erhalten können. Deren Bücher werden auch nie von denjenigen gelesen werden, denen man die Übergriffe vorwirft und sogar beweisen kann. Für diese Art – aus deren Sicht – Trivialliterataur hat man schließlich seine Anwälte. Die blendet man aus.
Aber Benjamin Stuckrad-Barre blendet man nicht mehr aus in diesem Land. Er hat sich schon so oft so nackig gemacht hinsichtlich seiner Fehler, Probleme, Süchte: er hat sich damit absolute Glaubwürdigkeit erarbeitet. Dieses Buch einen Roman zu nennen, ist seiner Genialität geschuldet. Ein Roman dieses Inhalts von Benjamin Stuckrad-Barre können wir sehr sicher sein, dass die Reichelts, Döpfners und Porchardts, sorry, Springers dieser deutschen Redaktionszunft seinen Roman lesen werden respektive schon gelesen haben werden. Falls sie überhaupt noch lesen können, vielleicht hören sie auch nur das Hörbuch. Vielleicht kapiert der eine oder andere von ihnen, was für elendige Mistmaden sie im Grunde bloß sind. (Glaube ich nicht daran.) Vielleicht lernen daraus künftige Chefredakteure, was man tunlichst nicht macht: Nämlich Macht missbrauchen oder sich von Macht missbrauchen zu lassen, was ja kein reines Frauenthema nur ist.
Vielleicht wacht nach der Lektüre endlich das Umfeld auf, dass solches Verhalten ausschließlich toleriert hatte.
Friede Springer, Sie meine ich!