2008-07-07

Bruder

Mail im Mai. Der Kontext spricht, es sei von meinem Bruder, den verloren geglaubten. Den von dem ich immerhin seit dem Winter 1999 nichts mehr gehört habe. Gar nichts mehr. Zuerst denke ich an einen hässlichen Scherz. Die Mail selber kam von einem Mail-Account, der die Eignerin als weiblich definiert. Dieses Post, knapp zehn Tage her, denke ich, kann ja auch das kranke Internet auf den Plan gerufen haben. Denn das gibt es, das weiß ich wohl.

Alleine der Wortlaut spricht mich mit dem Vornamen an, vor allem aber unterschreibt er mit dem Vornamen des Bruders. Den ich hier nie genannt habe, das weiß ich genau. Das Herz klopft, der Magen routiert, die Synapsen im Kopf sprühen Blitze. Alles ist plötzlich wieder anders als die zwangsweise zurecht gelegten Gedankenmodelle. Alles wird umgeworfen. Eine Anschrift, eine Telefonnummer. Ein Bruder zum Greifen nahe. Und Angst.

Den besten Freund der Welt schicke ich eine paar Tage später am Telefon vor. Der kannte ihn auch damals. Wenn einer wohl in all den Jahren die Umstände und mein Leiden deswegen mitbekam, dann er. Klarheit schaffen. Ich kann das selber noch nicht. Als der Freund mich anruft und sagt, «ja, er ist es!», sitze ich in der Küche auf dem Boden und heule. Acht Jahre. Acht! Vermissen, nichts wissen, sich abgestoßen fühlen, nicht wichtig. Dazwischen der Tod der Mutter und noch so vieles nebenbei, was nicht geteilt worden ist, was aber geteilt gehörte. Alles das stellt viel mit einem an, es ist nicht greifbar für jemanden, der das nicht kennt. Den Bruder unter der Erde zu wissen, wäre nicht gut aber viel leichter, habe ich nicht selten gedacht. Irgendwann ihn für mich auch für tot erklärt, weil alles andere nicht mehr ging und nur Geschwüre in den Magen gefressen hätte. Man muss sich entscheiden, ob man leben oder leiden will.

Den Kopf habe ich mir gemacht, warum jetzt? Wie er mich gefunden hat. Ob er nur wissen will, was mit unserer Mutter passiert und, weil vielleicht jetzt erst vom Amtsgericht angeschrieben worden, dann wieder verschwindet, zum dritten Mal. Vorsichtig bin ich geworden, die Ahnung, das alles bringt vielleicht das, was gerade sich erst wieder zaghaft im Aufbau zum Positiven befindet, erneut zum Einsturz. Zuerst an mich denken, Egoismus. Aber lebensnotwendig. Sehr simpel. Wenigstens etwas gelernt in dieser Zeit.

Ich schreibe dann eine Woche später, als er Geburtstag hat. Den ich nie vergessen habe in all diesen acht Jahren. Und voher schon mal fünfen. Ich freue mich, dass er lebt und es ihm gut geht. Das ich noch Zeit brauche, ich sehr wohl auch Ängste habe. Die Antwort ist gut und verständnisvoll. Er schreibt, er hat hier in diesem Blog Kinderfotos von sich gesehen, er selber hat gar keine mehr. Was stimmt, eine fototechnische Vergangenheit kann er kaum haben. Die meisten Fotos habe nun ich von der Mum übernommen. Die Antwort nimmt etwas von den Ängsten und ich schicke meine Telefonnummer. Und prompt ruft er an. Und alles ist sehr schön aber unglaublich. Nach dem ersten Telefonat wieder Tränen. So leicht und einfach gehen acht Jahre nicht weg.

Er hat ein Leben in der Nähe von München. Eine Beziehung, die keine mehr ist, die aber meine Nichte hervorgebracht hat. Kämpfen muss er um sein Kind. Er lebt wieder mit einer Frau zusammen, der diese Mail-Adresse gehört und die sehr nett am Telefon klingt. Zwei Söhne hat. Mein Bruder hat also Familie, was mich sehr freut, denn Kinder hat er immer gewollt, die Familie, die er so mit unserer auch nicht glücklich hatte. Ich bin froh für ihn. So soll es sein!

Das kleine Mädchen, meine Nichte, ist nun sieben. Sie hatte bei ihrer Geburt die Nabelschnur zwei Mal um den Hals gewickelt, was sie zu einem sehr besonderen kleinen Mädchen macht. Mein Bruder erzählt, sie lebt in ihrer eigenen kleinen Welt. Was nicht das Schlechteste sein muss – in dieser Welt – denke ich. Und mein Bruder erzählte auch, sie könne nicht viel sprechen: Mama, Daddy und nach mehreren Besuchen bei Mickey Mouse in Paris, auch Donald und Goofy (das mit Goofy sind die Gene ihrer Tante, das ist ganz klar, Goofy hatte immer mein Herz, Mickey Mouse nie!). Neulich habe ich mit ihr telefoniert und sie quasselte wie ein Wasserfall, ich habe kaum ein Wort verstanden. Das liegt aber nur an mir und meiner Unfähigkeit und weil ich ihre Sprache noch nicht kenne. Einmal hörte ich das Wort Schule, sie kommt in diese, dieses Jahr. Sie wollte mich auch gleich noch einmal sprechen. Ich glaube, sie mag mich am Telefon. Sie hat knallrote Haare (wie unsere Mama als Kind) – ich finde sie großartig und ich will überhaupt keine andere Nichte haben als diese. Es ist wie es ist. Und in den Sorgen muss man auch das Glück sehen, das wir mit ihr haben, denn andere Kinder mit Sauerstoffmangel unter der Geburt können nie laufen, nie sehen. Ich wünschte nur, meine Mum hätte von ihr gewusst, bevor sie gehen musste.

Etwas Zeit brauche ich noch, es ist noch nicht fassbar. Lange konnte ich auch hier nicht erzählen. Unwirklichkeit. Acht Jahre passen nicht in knappe acht Wochen. Dennoch kann ich es zunehmend kaum erwarten, meinen Bruder wiederzusehen, seine Familie zu treffen und seine kleine Maus kennenzulernen! Diese EM 2008 hatte ich mit meinem Bruder am Telefon. Wer hätte das gedacht?

17 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich freue mich für Sie.

(mit Tränen in den Augen)

bhuti hat gesagt…

Ich freue mich, dass ihr euch wiedergefunden habt :-)

DSCHAIN hat gesagt…

hach, frau creezy, das kann ich gut nachempfinden! mir ist der beste und innigste freund seit jahren verloren gegangen - familie ist da sicher noch mal eine andere kategorie ... die freude sei ihnen mehr als gegönnt!

daniela hat gesagt…

*seufz*
Bin mal wieder da und lese und lese und lese und bin ein ganz klein wenig ergriffen.
Der liebste Maurice von allen sitzt auf meinem Schoß, was mich schwer tippen lässt, und schnurrt mich an und macht mich glücklich, was mich wieder leichter tippen lässt.
Das klingt alles sehr sehr schön, ich freu mich so!

kaltmamsell hat gesagt…

Atemberaubend.

Anonym hat gesagt…

Wie war das doch gleich, so flapsig immer dahergesagt: "Bloggen hilft"? Es macht das Leben auf jeden Fall abwechslungsreicher und manchmal abenteuerlicher.

Ich freue mich, nun darüber zu lesen und hoffe, es geht weiter gut voran mit der wieder- und neugefundenen Familie.

stilhäschen hat gesagt…

Wow. Wie auf einmal neue Welten entstehen können. Glückwunsch, in jedem Sinne, zum Wiederfund!

Anonym hat gesagt…

ich hatte lange keinen Blog Artike mehr der mich so berührte wie dieser.
Ich freue mich für euch.
Fühl dich gedrückt.

Anonym hat gesagt…

Ich denke da gerade wieder drüber nach, über dieses Blut, dieses Wasser. Andere Menschen hätte man vielleicht für immer verloren - Sie Ihren Bruder zum Glück nicht. Sehr berührend, das freut mich sehr.

Anonym hat gesagt…

das ist alles sehr wertvoll und was sich wohl noch alles öffnen wird? ich freue mich für sie und ihre neuen zeiten!

Anonym hat gesagt…

Halt ihn fest. Man merkt ja erst, was man an einem Menschen hat, wenn man ihn verloren hat.

creezy hat gesagt…

@alle
Merci. Und ja, ich halte ihn fest. Wie ich vieles festhalten will, was mir gerade passiert. Es ist gerade ein wunderschönes Leben!

Anonym hat gesagt…

.

Pathologe hat gesagt…

Oooh ja. Kenne ich irgendwie. Nicht der Bruder, aber der Vater. Das erste Mal gesehen nach 35 Jahren, dann wieder 7 Jahre spaeter. Dazwischen Pause, Schuldzuweisungen unnoetig. Irgendwie war der Kontakt abgebrochen. Und im Moment wieder Pause, anderer Grund.

Schoen, dass es bei Ihnen klappt.

Anonym hat gesagt…

wow!
da fahren die gefuehle achterbahn.
freut mich fuer dich!
viele gruesse
microbi

shadow hat gesagt…

Ergreifend.
Familie ist alles.

Sheherazade hat gesagt…

Ich freu mich sehr für Sie.

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