Smalltalk
Der Hübsche quatscht mich von links an. Stört ihn nicht, dass ich lese. «Und was machen Sie beruflich?» Da ich morgens um 7:45 Uhr auch nicht immer Lust habe einer speziellen Zielgruppe den Begriff Multimedia zu erklären, erzähle ich die einfache Variante, Fotografin. Das versteht jeder. «Ha! Da müssen 'se mal einen Toyota Prius und einen Anhänger und einen Wohnwagen hintereinander hängen und fahren und dann raus filmen! Dann haben 'se 'nen schönen Film.» «Yo», sach ich, «Kann ich mal machen, ist aber schon einen bisschen lang der Zug, wie?», sende anstandshalber schon mal die Hybriden-Bestellung an die zuständige Glückszentrale nach oben. Man weiß nie.
«Ich koof mir eenen Toyota. Ick bin nämlich reich. Habe jeerbt. 100.000 Euro!» «Na, das ist ja schön. Na, hauen Sie mal nicht alles auf'n Kopf.» Hält mir 'ne Packung Zigaretten hin. Gutes dunkles Kraut, Filterlos. Riechen bis nach Katowice. Im gleichen Moment, als gäbe es sowas wie transzendentale Schwingungen von der Bank vorne zum S-Bahn-Männchen-Automatismus in der Mitte, erklingt die nette Ansage mit dem Hinweiss, dass das Rauchen auf dem Bahnhof nicht ultimativ chic sei. Hört der Hübsche aber nicht. Steckt sich ruhig eine an. Freut mich, endlich ein Unbeirrbarer. Sind mir ja doch die liebsten Dickköpfe. Und lehne dankend ab. «Gutes Zeug!», sagt er. «Habe ick jeschmuggelt. Bin nämlich arm. Frührentner.» So, denke ich bei mir, so schnell kann's gehen. Um 7:46 Uhr noch reicher Erbe. Um 7:48 Uhr schon wieder armer Frührentner.
«Aber schicke Schuhe hab ick!», freut er sich und streckt mir seine Botten Marke «Öko-Chic» hin. Gutes Material, zweifelsohne. Nennt mir auch die Marke, die ich nicht kenne und die Werbe-Paranoiden eh nicht ertragen hier lesen zu müssen. «Die sind nich' kaputt zu kriegen. Die kann man sich immer wieder neu besohlen lassen. Habe ich erst machen lassen.» Hat er das Erbe schon mal gut angelegt.
«Da kommt meine S-Bahn. Ich gehe heute nämlich zum Zahnarzt!», spricht er fröhlich und reisst flugs seinen Mund weit auf, der mir einen intimeren Einblick in eine ganz besondere dunkel gefärbe Oase feuchter Fäulins offenbart, gepart mit appetitlichen Spuckestriemen im hinteren Raum des Rachens als unauffälliges Detail neben allerlei Essensresten von vor drei Tagen, dem Nikotinbelag von heute, gestern und vermutlich auch der letzten 18 Jahre, die sich fröhlich guten Morgen wünschen im Tempel dieser oralen Brutstätte lustiger Einzeller, unten rechts tummelt sich ein güldenes einsames Inlay wie eine eitle Prinzessin inmitten fauler schwarzer Stumpfen. Das Gebiss erinnert mich an ein altes verrottetes, mehrfach vom Laster überfahrenes Schachbrett, das obendrauf nicht nur einmal als Treffpunkt einer Holzbockkompanie herhalten musste und von dem nur die Dame wie durch ein Wunder wenig Schaden genommen hatte, weil die Bauern mal wieder herhalten mussten. Daran erinnert mich auch der Hübsche. Der konnte bestimmt Schach spielen, bevor seine Hirnzellen in den Alk-Streik entsendet wurden.
Das Gebiss, ein dermaßen hübscher Anblick am frühen Morgen, dass ich mich jetzt noch wundere, warum die kleinen Herpesianer in meiner einen Stelle an der Oberlippe mittig-rechts nicht gleich, sofort und ohne umzudrehen vor Freude über den Ekel «Happy Hour!» gerufen haben.
Egal, er war entspannt, kommunikativ, nett und guter Dinge. Mehr kann man wirklich nicht verlangen von einem Bankpartner morgens in der Hermannstraße. Ich vermute, er wusste zu dem Zeitpunkt schon längst was ich auch ahnte, dass er nämlich noch kurz vor der Praxis rechts abbiegen würde, direkt einen Kiosk ansteuernd, um sich mit seinen Jungs und ein paar Bier über Zahnarzttermine, deren Relevanz als auch Auswirkungen auf's persönliche Wohl an einem durchschnittlichen Dienstag zu unterhalten. Ganz in der Tradition, wie er es all die vielen Jahrzehnte vorher bereits gehalten haben wird. So behauptete sein Gebiss jedenfalls.
Zahnarzt ist wohl kein lustiger Beruf, war mein nächster Gedanke. Da fällt mir ein, der einzige Zahnarzt mit gutem Humor der mich je behandelt hatte, erklärte mir mal, er hätte tierischen Schiss vorm Zahnarzt und würde nie ohne zwei Whiskeys intus hingehen. Der Mann starb leider viel zu früh an einem Karzinom. Bauchspeicheldrüse oder Leber, eins von beiden. Ging sehr schnell. Schade um ihn, war ein großartiger Zahnarzt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte aus Neukölln.
7 comments:
mit wildfremden Leuten kann man immer wieder eine Menge Spass haben.
Ach übrigens. Ich als wildfremde Person hab dir mal ein Stöckchen zugeworfen.
ich zitiere an dieser stelle mal einen kommentar einer leserin meiner kleinen seite:
für solche beiträge liebe ich dich!
Wie heißt es so schön? Be Berlin!
Yeah.
Ich liebe Deine Stadtbeobachtungen.
Wo du wohnst braucht man echt keinen Fernseher!
Lediglich die Bezeichnung "Hübscher" im Hinblick auf ein Gebiss, welches einem mehrfach vom Laster überfahrenen Schachbretts gleicht, erschliesst sich mir nun nicht so ganz...
Der Wandel vom Neureichen zum armen Frührentner innerhalb von zwei Minuten hat mir ja am Allerbesten gefallen. Und auch ansonsten sehr schön geschrieben und beobachtet. Wobei ich bei der genaueren Beschreibung des Gebiss- und Zahnzustandes vielleicht doch lieber nicht gerade was hätte essen sollen.
Wirklich schön erzählt. So kann selbst das Hässliche noch spassig wirken.
Oder war es das garnicht? Dem Anscheine nach war alles bestens für Dich.
@istschonzeit
Oh ja! Und wie. Stöckchen hole ich mir bei Gelegenheit!
@michael
Sie können Leserinnen haben, junger Mann, ich bin entzückt! ,-)
@maren
Danke! Ich überlege gerade inwieweit die Kampagne sich mit jemanden wie den Hübschen vereinbaren lässt … ich überlege noch etwas länger.
@dr. sno*
Nö, langweilig ist's hier wirklich nicht. Ach, eigentlich war er kein sehr Unhübscher. Wenn auch nicht der gepflegteste seiner Sorte. Gut, die Zähne – aber die sind ja auch nicht alles. Manoman, ich kann mir immer nicht vorstellen, dass so eine Kauleiste nicht unglaubliche Schmerzen bereitet.
@knurrunkulus
Ja, seit wann darf denn bitteschön auch gegessen werden, wenn man mein Blog liest? Was sind das für neue Sitten? ,-)
@dirk
Dankeschön. Nein, es war völlig nett und amüsant. Ich mag solche Figuren wirklich lieber als die aalglatten. Der war auch einer dieser Sorte: hatte eigentlich mal wirklich Intelligenz und Kultur auf seiner Seite und dann muss irgendwann mal etwas sehr kräftig schief gelaufen sein. Das sind schon spannende Menschen.
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Fröhlich sein, freundlich bleiben und bitte immer gesund wieder kommen!
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