I'm Growing Old!
Heute ist der 2. September 2025 und wenn es in den nächsten vier Wochen okay für mich läuft, werde ich am 2.10. runde und ganze 60 Jahre alt.
Zack! Es ist so, und da geht es mir wohl wie sehr vielen Menschen, die diese Marke erreichen dürfen: Gestern war ich noch 25 … und wie bitte bin ich hierhergekommen und warum ist diese Zeit, gefühlt, schneller vergangen als man die Zeit zwischen zwei S-Bahn-Zügen empfindet?
Ich stolpere gerade ein wenig. Das Gesundheitliche möchte ich nicht sehr streifen, da bin ich pragmatisch unterwegs. Da hat es Menschen meiner Generation etwas besser getroffen als mich, andere aber auch deutlich schlechter. Die familiären Prognosen stehen auf eher weniger Zeit noch zu haben, geht man vom Durchschnittsalter meiner Eltern und den biologischen Großeltern aus. Was mich vielleicht da hinaustragen könnte, ist mein doch etwas gesünderer Lebensstil. Er wurde mir übrigens ermöglich, weil sich mein Land zu meinen Lebzeiten nie in einem Krieg befinden musste. Und ja, dank meines wundervollen sozialen Umfeldes.
60 ist eine Marke. Mit 50 kann man sich immer noch (naiv) einreden: Wenn es richtig gut läuft, kann ich noch einmal genauso viel Zeit vor mir haben. Die Nummer funktioniert mit der 60 nicht mehr. Das ist auch merkwürdig, denn ich denke jetzt natürlich auch nicht: Okay, sind’s halt noch einmal 40 Jahre. Irgendwie markiert diese Zahl eine Linie, an der man eher auf einen Gedanken wie: „Tsja, vielleicht haste noch zehn oder zwanzig gute Jahre vor dir.”
Ich bin in eine gute Zeit geboren worden. Familiär ganz klar sehr schwierig, denn als Kriegsenkelin ist man nicht unbedarft in dieses Leben geschickt worden. Mit einer Mama als Pflegekind, gab es eben diese eine Familie nicht – über die natürlich immer der Kriegsschatten mit dem „Wie ist es zu ihrer Empfängnis gekommen, wenn ihre Mutter sie als Kind weggibt?”
Die Kriegserlebnisse meines Großvaters und meines Vaters, der 1938 geboren wurde – in der Folge waren beide stark alkoholkrank. Die eine Oma, hart gebeutelt nicht nur mit dem mehrfach suchtkranken Ehemann, deren Schweigen über Russen und russische Männer alles sagte, die so auch keinen allzu hellen Schatten über unsere Familie legen konnte. Trotz aller ihrer wirklich liebevollen Bemühungen.
Die andere Oma, die Pflegemutti meiner Mama, die wohl etwas mehr Glück in dieser Zeit hatte. Man wird nicht sorgenfrei groß als Kind in einer solchen Welt, knappe junge 20 Jahre nach einem Kriegsende. Man wird auch nicht sorgenfrei groß in einer Stadt, die geteilt ist, und in der man in der Familie groß wird, in der dieser Trennungsschmerz an allen familiären Feiertagen spürbar ist – zwischendurch auch. Ja, es standen wieder mehr Häuser in Berlin als direkt nach 1945. Trümmer und Häuserlücken gab es aber in meiner Kindheit immer noch in Berlin, wie auch so viele Lebensentwürfe in Trümmern lagen, und mit ihnen das Familienwohl – auch mit Lücken.
Und dennoch: Geboren bin ich in eine Aufbruchstimmung hinein. Frauen, die sich mit neuem Selbstbewusstsein für politische Anerkennung engagierten und sie 1975 mit dem Frauenwahlrecht endlich auch erhielten. Das Gleichberechtigungsgesetz, das 1958 in der BRD Kraft trat, (die DDR war früher klüger), ein wirklicher Meilenstein für uns Frauen in diesem Land. Es hieß, uns Frauen würde jetzt die Welt offenstehen.
Erst aber immerhin dann vier Jahre nach meiner Geburt wurden auch (verheiratete) Frauen in Deutschland gesetzlich voll geschäftsfähig. Und erst zwölf Jahre nach meiner Geburt durften Frauen selber bestimmen, ob und wo sie arbeiten gehen, ohne sich dem Diktat ihres Ehemannes zu beugen. Kann man sich heute kaum noch vorstellen, oder? Aber das war noch Thema in der Ehe meiner Eltern. Meine Mutter musste früh nach der Geburt von uns Kindern arbeiten gehen, weil mein Vater aufgrund seines Alkoholismus immer wieder seine Arbeit verlor. Aber wenn er der Meinung war, einer der Kollegen meiner Mutter wäre zu aufmerksam zu ihr gewesen, konnte er ihren Job kündigen. Was er auch tat. Ein Glas Suff zu viel und meine Mutter war draußen – und wusste oft nicht, wie sie uns ernähren sollte.
Ich habe das noch erlebt. Ich kann euch daher gar nicht sagen, wie sehr ich diese Trad Wife-Mode zutiefst verabscheue. Was für selten dämliche Weibsbilder sind das eigentlich?
Für meine Generation hieß es in diesem Land geschlechterübergreifend und auch überhaupt: Wir können alles werden, was wir wollen! Es hieß, wir würden entscheiden, ob wir das Abitur machen oder nicht. Das war ein Stück weit, etwas naiv, denn es saßen zu meiner Zeit immer noch alte Männer aus der Nazizeit unseren Schulklassen vor und gestalteten natürlich die Lebenswege von uns Schülerinnen noch ein Stück weit mit nach ihrer Überzeugung – über unsere Zensuren. Es hieß, wir Frauen konnten studieren – selbstbestimmt den Studiengang wählen. Wir jungen Frauen konnten selber entscheiden, welche Berufe wir erwählen.
Nein, das war längst noch nicht die totale Freiheit, denn vor allem wer regional in Deutschland sehr eingeengt als Mädchen damals erwachsen wurde, hatte immer noch an vielen Ecken mit dem Diktat von Männern zu kämpfen. Männern, die sich der gleichberechtigten Moderne dieser Zeit ganz bewusst – und den Frauen gegenüber aktiv, wenn auch hinterhältig – entsagten. So wie es übrigens der aktuelle Bundeskanzler gerade tut.
Aber ja, unser Selbstbewusstsein war enorm, dank vieler Frauen, die sich in dieser Zeit nicht mehr einem patriarchalen Diktat folgen wollten. Gerade meine Generation hat unfassbar viel von ihnen profitiert! Mit welch großer Fassungslosigkeit ich heute auf eine Frau wie Julia Klöckner herabgucke, wie rückständig ich diesen deutschen Bundeskanzler erlebe, wie noch rückständiger ich die Frauenpolitik der AfD (so sie überhaupt existiert) erlebe, ich kann es nicht beschreiben.
Ich bin also groß geworden mit einer wirklich engagierten, kämpfenden Frau, die ihr Leben nie wirklich leicht leben durfte als Mutter. Meine Mum war eine Löwin! Und dennoch musste ich oft sehen, wie ihr – immer von Männern – Steine in den Weg gelegt wurden. Steine, die mir nicht mehr oder sagen wir, nicht mehr in der Häufigkeit, im Weg lagen. Meine Generation hatte eine verheißungsvollere Zukunft.
1971 trat erstmals das Bundesausbildungsförderungsgesetz in Kraft! BAföG ermöglichte Schulabgänger*innen eine gleichberechtigte Ausbildung, auch wenn Eltern nicht allzu viel Geld zur Verfügung hatten, um ihren Kindern ein Studium zu finanzieren. Die Schere zwischen armen und reichen Menschen sollte sich beruflich damit deutlich verkleinern – und tat es auch.
Was durfte ich in meinem Leben für tolle – vor allem noch neue – Moden erleben! Während heutzutage junge Menschen nur noch Repliken meiner Zeit als ihre Fashion tragen. Die beste vielfältige Musik wurde in meiner Jugend geschrieben, grandiose Songs, die heute (meist leider als nicht ganz so gute) Dancetracks gecovert werden. Ich durfte immer reisen, wohin ich wollte, bekam die Grenzen der anderen Seite Deutschlands nicht aufgezwungen von einem totalitären Staat (den viele dieser Menschen mit der AfD nun wieder wählen möchten).
Ich konnte daran glauben, dass ich alles werden kann, alles erreichen kann. Auch für Menschen, die sich nicht reich erben würden, stand in meiner Generation durchaus im Raum, eines Tages über z. B. Wohneigentum verfügen zu dürfen. Generation IT – mein Gymnasium, die erste Oberschule mit Personal Computern und Unterricht (wenn auch nur im Wahlpflichtfach) in Berlin – die aufregende Zeit von PCs im Hausgebrauch ging los und meine Generation, ich, war mittendrin. So viele Anfänge, die ich mitgehen konnte, von denen ich profitieren konnte – aber auch Firmen, Prozesse, sogar Software, deren Ende ich miterleben musste. Abschiede erleben musste.
Meine Generation war die Generation, die mit dem Damoklesschwert Klimakrise aufwachsen musste. Es gab Ölkrisen, es gab schon das Waldsterben. Den Kalten Krieg. Kluge deutsche Ingenieure entwickelten mit an Katalysatoren für Autos, Solartechnik, Kunstherzen, Defibrillatoren als Implantate – wir waren eine tolle wissenschaftlich, forschende fNation, international anerkannt.
In unserer vor allem für uns Frauen erungenen recht jungen sexuellen Freiheit crashte dann in den 80ern HIV. Aber wir erlebten und lebten damals auch eine unfassbar große internationale Solidarität, vor allem in der Musik- und Kunstszene. Videos, MTV. Was meine Englischlehrerin uns nicht beizubringen vermochte, schaffte MTV in den Jahren, in denen der Sender hier in Deutschland in englischer Sprache ausgestrahlt wurde.
Wir sind gegen Atomwaffen auf die Straßen gegangen, ich erlebte, wie sich die Weltnationen annäherten. Rüstungsabbau, weil die Vorzeichen positiv waren. Ich durfte als noch junger Mensch Zeitzeugin von Solidarność sein, ich durfte dabei sein, als das wirklich Unglaubliche geschah: der Mauerfall. Und das durfte ich hier, in dieser Stadt, in meinem Berlin erleben.
Ich bin in eine verdammt gute Zeit hineingeboren worden. Vielleicht die Beste? Bin in ein Land geboren worden, das soviel Sicherheiten seinen Bürgern über lange Zeit offeriert hatte, dass es mich zu einem der privilegiertesten Menschen gemacht hat. Und lassen wir meine kleinen persönlichen Glücksmomente und auch Unglücke beiseite – dafür bin ich voller Dankbarkeit und weiß das so sehr zu schätzen!
Aber ich stehe jetzt mit ganz bald 60 mit so großer Ratlosigkeit vor unserer Gesellschaft in diesem Land und wie dieses Volk seit Jahrzehnten den politischen Rückschritt immer und immer wieder wählt, in die neue Deklassierung von uns Frauen. In ein Deutschland, das wieder Barrieren errichtet gegenüber anderen Menschen, seine Freiheiten abwählt. Seinen Fortschritt kaputtrechnet zugunsten einiger weniger Eliten. Altbekannte Irrwege offensichtlich wieder neu gehen will.
60 Jahre. Ein bisschen weise. Mit großer Zukunftsorge. Kalte Angst. Nun denn, was auch kommt. Noch einmal 50 Jahre habe ich ja nicht. Zum Glück, vielleicht.
2 comments:
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Sehr gerne gelesen! Sehr erhellend für eine etwas jüngere Person.
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Fröhlich sein, freundlich bleiben und bitte immer gesund wieder kommen!
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