2021-05-30

Pandemielockerungsgefühle

Shiina hat eine ganz besondere Charaktereigenschaft, sie hat immer Hunger. Und wenn sie keinen Hunger hat, hat sie immer noch ein Hüngerchen. Dabei glaube ich, dass es ihr dabei lediglich um Liebeszuwendung geht. Aufmerksamkeit erheischen, die sie bei mir natürlich grundsätzlich viel zu wenig bekommt. Nie quasi. Armes kleine, ungeliebte, unbemerkte, unglaublich, niedliche Katze.

Kompensiert haben wir das sehr gerne mit den Hühnchenfilets von rossmanns Eigenmarke Winston. Gibt es seit wenigen Jahren. Der Snack für den kleinen Hunger, um eine Werbung zu zitieren. Ökologisch und ökonomisch ganz schlimmes Zeug. Aber wir Tierbesitzer kennen das gemeinhin, mit uns kann man das machen. Mit mir also auch.

Nun musste ich diese Woche lernen, dass die Snacks offensichtlich aus dem Regal genommen wurden. Der alternativlose Wegfall ließ mich unruhig werden und ich fing an andere Fillialen abzugrasen. Freitag bekam ich in Charlottenburg hier noch sechs Packungen, dort noch einmal zwei, in vielen anderen Fillialen nichts. Gestern, am Samstag, konnte ich mir zum Glück in der letzten Filliale in Berlin Mitte von fünf Fillialen in der allerletzten noch einmal sechs Packungen sichern. Teurer Spaß – aber hey, Shiina ist sicher!

Somit kam ich also ein bisschen rum in den einzelnen Bezirken. Und das war sehr speziell, denn überall haben die Läden und Restaurants, bis auf wenige Ausnahmen, wieder geöffnet. Testcenter sind überall aus dem Boden geschossen, wie Pilze im Mai nach dem zu feuchten Frühling. Menschenanreihungen, die an die sozialistischen Warteeinheiten von früher erinnern, prägen das Stadtbild. Es wird viel angestanden. Wir im Westen kann das ja nicht, wir wurden schon zappelig, wenn nur zwei Menschen vor uns an der Fleischtheke standen. Es wird viel angestanden, viel getestet, viel gewartet, um wieder konsummieren zu dürfen.

Konsum. Konsum regelt so vieles, streichelt die Seele, füttert vernachlässigte Ichs, spachtelt die Risse in einem löcherigen Leben. Konsum ist so wichtig, scheint es. Mit Konsum fühlt sich wieder alles gut an, richtig, heile, vollständig. Man fühlt sich gebraucht, gesättigt für kurze Zeit. Sehen, kaufen, haben. Es waren für den Konsumisten der Welt harte Monate. Natürlich konnte man online konsumieren. Aber der Duft der Läden fehlte, das Anfassen, das Anprobieren, das Weghängen, Abwählen, das Entscheiden, das Verlieben, das Nichtverlieben, Kontakte; die Ärgernisse, die Kontakte mit sich bringen; die Freuden, die Kontakte mit sich bringen. All das fehlte und schmeichelt sich nun unkontrolliert in unsere Leben zurück. Der Konsum pulsiert wieder wie rotes Lebenselixier durch unsere Venen und Synapsen und bringt uns unsere Existenzberechtigung zurück. Wozu arbeiten, leben, wenn man nichts konsumieren kann?

Mir war das diese beiden Tage viel zu viel Mensch. Mensch in Hülle und Fülle. Mensch auf den Straßen, Mensch in den Läden, Mensch in der U-Bahn. Überall Mensch. Menschen, die, weil die Inzidenzen hinunter gehen, so tun, als gäbe es Virus und Pandemie gar nicht. Menschen, die prompt kaum noch Abstände halten. Menschen, die sobald sie es können, Masken abwählen. Menschen in Cafés und Restaurants. Viele Menschen, viel zu nahe Menschen.

Und ich wandle durch diese neue Welt der alten Begierden, kann nicht teilhaben aus unterschiedlichen Gründen. Verstehe die Emotionen von allen – und verstehe das daraus resultierende Handeln dennoch nicht. Ich kann mich nicht diesem Glauben hingeben, als wäre schon gut. Ich kann nicht so tun, noch nicht, als wäre alles wieder besser, einfacher. Als könnte man wieder so tun als wäre nichts gewesen. Ja, nun halt mit einem Test in der Tasche. Alles geht wieder, alles wird gut.

Ich hoffe so sehr alles würde gut aber ich bin nicht optimistisch genug, flexibel genug, um mich sofort wieder in dieses volle Leben zu stürzen. Was ist mit denen, die wir mit unserem neuen offenen Verhalten nicht schützen, obwohl sie unseren Schutz verdienen? Hin- und hergerissen bin ich zwischen, ich möchte hier befreundete Restauration unterstützen und dort dem geschundenen Einzelhandel schmeicheln. Aber alles wirkt auf mich unwirklich, zu früh. Der Grad ist zu schmal, ich fühle mich draußen. Ich bin überfordert. Ich kann nicht mitspielen.

Noch nicht.

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