2012-12-04

MS

Der junge Mann kommt mir auf dem unbefestigten Weg neben dem Baugrundstück auf dem ich eben falsch unterwegs war, um zum Parkplatz des schrecklichen Discounter zu gelangen und von dort aus die Straße zu überqueren zur Dockingstation, entgegen. Er geht an einem Rollator und ich weiche ihm in Richtung Pfütze aus, damit er auf dem etwas festeren Grund weiterfahren kann. Er findet, ich halte, um mich mit ihm zu unterhalten und spricht mich an und erklärt mir, dass sei ihm auch passiert beim ersten Mal. Also den Bauzaun auf der falschen Seite entlang laufen.

Man würde aber irgendwann einen Übergang machen, das habe ihm die Architektin erzählt. Von seiner Behinderung beim Gehen abgesehen, sind leichte Anzeichen einer zerebralen Behinderung zu bemerken. Er spricht schnell, stellt Fragen, redet schon wieder bevor man antworten kann, antwortet man, passiert es, dass er die gleiche Frage wenig später noch einmal stellt.

Die Architektin sei jung. Sagt er. Aber sie hätte ihre Arbeit gelernt. Was ich gelernt hätte? Für wie alt ich ihn halten würde? Und reißt sich die Mütze vom Kopf. Ich schätze ihn auf Mitte, Ende 30. „45”, freut er sich, fragt im gleichen Atemzug in dem mir erzählt wird, dass noch zwei Häuser dort hin gestellt werden sollen, das hätte die junge Architektin ihm erzählt, wie alt ich denn sei und noch einmal was ich gelernt habe. Zwischendurch entschuldigt er sich oder sagt „macht ja nichts.”

Ich bin 47 und er findet doof, dass ich älter bin, denn das wollte er doch sein. Er hat Freude an seinem jugendlichen Aussehen. Aber das würde auch nichts machen, also dass ich älter sei, sei nicht so schlimm. Er lacht vergnügt. Er habe MS. Multiple Sklerose spricht er die Krankheit später doch noch ganz aus, fragend, ob ich weiß, was das ist. Weiß ich. Als 16-jähriger habe er sich einmal das Leben nehmen wollen, weil er damals so traurig war. Eine Packung Schlaftabletten habe er geschluckt. Kunstschmied habe er gelernt. Und jetzt hat er MS. Und das Leben ist doch ganz schön. Er müsse bis an sein Lebensende alle drei Monate zur Charité, weil er in einer Studie ist. Und fragt mich, ob ich glaube, ob es wohl noch Schnee gibt. Ich sage, es hätte doch schon geschneit. Aber diese lächerliche Menge von Schnee lehnt er ab. „Das war noch nix”, sagt er.

„Tschüss!”, sagen wir.

Ich mochte den.

Edit: mir hat eine Leserin geschrieben, die darauf hinweist, dass es in Folge einer Multiplen Sklerose-Erkrankung nicht zu geistigen Behinderungen kommt. So wollte ich bitte meine Beschreibung hinsichtlich der Erscheinung des Mannes nicht verstanden haben! Was mir bei meinem Gesprächspartner aufgefallen ist, ist ganz sicher in zwei unterschiedlichen Erkrankungen bzw. Diagnosen zu sehen. Über die eine hat er zu mir offen gesprochen. Die andere wurde zwischen uns nicht thematisiert.

4 comments:

hajo hat gesagt…

wir haben im Bekannten-/Freundeskreis drei "MS-Fälle", alle drei mit unterschiedlichem Verlauf .. eine teuflische Krankheit ..

creezy hat gesagt…

@hajo
Ja, ich habe auch das Gefühl, es werden ständig mehr. Persönlich tippe ich ja hier sehr stark auf Umwelteinfluss. ;-(

hajo hat gesagt…

liebe creezy, das mit der Umwelt ist sicherlich ein Argument, welches sich anbietet, ich meine nur, daß es sich mittlerweile tot-verwendet hat.
Was ich meine (es ist meine unmaßgebliche Meinung) ist, daß die Diagnose - ebenso wie die Kommunikation - heute besser als "früher" ist. "Früher" hat man halt z.B. die MS (deren Diagnose wirklich nicht einfach ist) schlichtweg nicht erkannt (oder es gab sie in den üblichen Lehrbüchern noch nicht).
Dies gilt auch für vieles Andere.
Liebe Grüße
Hajo

GudrunPlett hat gesagt…

Zumindest 1973 konnte man die Diagnose gut stellen, mit der Kommunikation haperte es allerdings sehr! Wir haben "unautorisiert" den Krankenhausbericht meines Vaters geöffnet und kopiert, danach habe ich in der Bücherhalle die Übersetzung von "encephalomyelitis disseminata" vorgenommen. Meine Mutter erschreckte dann den behandelnden Arzt damit, dass sie die Diagnose ihres Mannes kannte!
Die Diagnose ist evtl. besser als damals, zumindest gibt es heute eine Chance durch Betaferon.
Sorry für meinen "Roman" hier, aber beim Thema MS bin ich immer sehr berührt.
L G
Gudrun

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