2010-07-21

Vier.



Vier Jahre ist es nun schon her. Begleitet hat mich das dumpfe Gefühl bereits die ganze WM über, denn das brennt sich im Hirn fest, dieses „sehr kurz nach der WM 2006 war sie einfach und unfassbarerweise nicht mehr da.“

Fassen kann ich es auch nach vier Jahren noch nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, dass die Telefonate nicht mehr sind. Die Umstände, die sie als Mensch machte und die Liebe, die sie als Mensch schenkte, weggefallen sind. Sehr oft denke ich im Alltagsgeschehen: „Das hätte ihr gefallen. Das zu sehen, hätte ihr weh getan. Wenn sie noch wäre, hätte ich ihr das jetzt gekauft.“ Sie ist immer bei mir. Das ist wohl gut so. Wenn man seine Eltern immer mit sich tragen möchte, haben sie nicht viel falsch gemacht.

Die Idee, wie sie war, wenn sie anstrengend war und einem das Leben schwer gemacht hatte – wofür sie in etwa die gleich hohe Kompetenz besaß wie für die Dinge, mit denen sie einem das Leben schön gemacht hatte – verwischt langsam. Ich merke nach vier Jahren, dass all die Dinge, die uns das Miteinander auch sehr schwer gemacht haben, nun in angemessener Weise verblasst sind. Auch das ist gut so, weil sie im Vergleich zu endgültigen Abwesenheit ihre Relevanz eh schon verloren haben. Es bleiben immer mehr die schönen Erinnerungen und die anderen Dinge, die noch hängen geblieben sind, werden mit einer ordentlichen Portion der eigenen anwachsenden Altersmilde übergestäubt.

Überhaupt, nach vier Jahren ohne Mum, hat mein Leben diesen Status erreicht, den man als Erwachsener wohl erst erreichen kann, wenn nicht mehr ist, was immer selbstverständlich war. Wenn die Menschen, die einem das Leben geschenkt haben und bedingungslos geliebt haben wie kein anderer im Leben einen mehr lieben wird, nicht mehr sind. Das Leben, wenn einem der große mütterliche Faktor des Urvertrauens weggestorben ist. Man guckt auf die anderen Freundinnen im Umfeld, die über ihre Mütter stöhnen und denkt bei sich, „wenn Du nur wüsstest!“ Es ist schwer, dieses Laufen lernen im Leben so ganz ohne Mum. Und jeder Tag, den man so verbringen muss, ist im Herzen gefühlt ein Tag zuviel davon. Ich wünsche mir immer noch jede Umarmung zurück, jedes Gespräch, jeden Rat, jedes verständnisvolle Schweigen, dieses am Leben der Tochter doch irgendwie teilhaben wollen. Ihr werdet nie wieder jemanden finden, der ein so herzliches tiefes Interesse an Eurem Dasein hat, wie Eure Mutter. Es nervt Euch, wie es mich genervt hat – aber glaubt mir, Ihr werdet es irgendwann so schmerzlich vermissen! Also genießt es lieber, solang Ihr es noch könnt!

Oft ist da der Gedanke daran, was wohl sein würde, hätte sie diese vier Jahre noch leben dürfen, müssen? Es wären qualvolle Jahre für sie gewesen, das steht fest. Wir hätten Erlebnisse miteinander geteilt. Ob sie heute noch bei klarem Geist wäre? Die Fragen sind in ihrem Fall mit so wenig Selbstverständlichkeit zum Guten zu beantworten, dass ich friedvoll mit der Tatsache umgehen kann, dass sie diese vier Jahre nicht mehr erlebt hat. Andererseits konnte meine Mum viel Schlechtes ertragen, weil sie, wie kaum ein anderer Mensch, den ich je gekannt habe, so viel und lange aus einem kleinen Hauch von Gutem und Schönem schöpfen konnte. Ein bisschen, glaube ich, habe ich von dieser Eigenschaft von ihr geerbt. Es ist gut so.

Überhaupt fällt mir immer mehr auf, wie sehr ich ihr ähnlich bin und immer mehr werde.

Oft lese ich z. B. in den Tweets – von den Töchtern – kurze Gedankengänge, die ganz klar das Nervige der eigenen Mutter in den Raum stellen. Ich verstehe Euch immer noch sehr gut und denke dann doch aber bei mir „Ach, gib ihr doch das bisschen Zeit und Wissen über Dich, dass sie von Dir gerne hätte. Du weißt nie, wie lange sie Dich noch darum bitten können wird und Du teilen darfst.“ Nein, ich fasse immer noch nicht, dass mir meine Mum einfach so weggestorben ist. Auch wenn ich das nun weiß.

Neulich war ich mit einigen Freundinnen Abends im Biergarten und das Gespräch kam irgendwann auf unsere Mütter. Es war ein – für mich – sehr schönes Gespräch, denn in allem was wir uns über unsere Mütter erzählten, konnte ich von meiner Mum nur sagen: „Nein, so war meine Mum nicht. Das hat sie nie verboten! Im Gegenteil! Sie hatte immer ein offenes Haus geschaffen. Sie wollte immer für meine Freunde auch da sein. Sie hat nie „nein“ gesagt, wenn es darum ging, mit meinen Freunden deren Leben, Leid zu teilen und Ratschlag zu geben – oder einfach mal in den Arm zu nehmen. Sie hat sich gekümmert. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mum zum Beispiel jemals etwas Schlechtes über meine von mir gewählten Freunde gesagt hätte. Sie war natürlich immer traurig, wenn ich mit ihnen stritt – aber sie war immer offen für sie und ohne jeden Vorbehalt da, wenn die sie brauchten. Sie hatte so ein unermessliches Bedürfnis mir mein Leben schön zu gestalten, dass das Leben derer, die mir nahe und wichtig waren, auch schön gestaltet werden sollte. Wieder einmal habe ich in diesem Gespräch gelernt, wie unglaublich viel meine Mum richtig gemacht hat und was für große Freude sie mir und anderen Menschen im Leben damit bereitet hatte. Wie konnte ich nur jemals ernsthaft glauben, dass dies eine nie endende Selbstverständlichkeit ist? Sie war aus meiner Sicht oft der anstrengendste Mensch auf Erden. Und der liebevollste, klügste Mensch auf Erden – mit einem Herz so groß und weit wie sechs Ozeane und noch mehr.

Warum nur muss ein Mensch immer erst Vergangenheit sein, damit man ihn der Gegenwart so wunderschön komplett sehen kann? All die kleinen besonderen Feinheiten sieht man leider erst in der kompletten Dimension, wenn dieser Mensch nicht mehr ist. Darum, wenn Ihr auch nur annähernd das Gefühl habt, auch Glück zu haben mit Euren Müttern, dann gebt Ihnen was sie von Euch so gerne möchten. Es ist doch oft nur ein bisschen von Eurer Zeit oder ein Gespräch, ein kleines geteiltes Geheimnis. Die Zeit, die Ihr nun mit ihr nur noch haben werdet, ist schon längst bemessen und knapp. Macht das Beste für Euch beide daraus.

Das Schlimmste ist wohl zurück zu bleiben und in diesem Punkt das eigene Versagen erkennen zu müssen, wenn gleichzeitig der Wunsch so groß ist nur dieses eine Gespräch noch mal führen zu können, einmal sie doch noch einmal in die Arme nehmen zu dürfen. Ihr Leben zu spüren. Ihr in diesem einzigen Gespräch von der großen eigenen Liebe zu ihr erzählen!

Sie fehlt.

8 Kommentare:

Matilda hat gesagt…

Ich kann die Gefühle gut nachvollziehen. Vor 4 Jahren war nicht sicher ob ich meine Mom verlieren würde.

Seit dem ist es mir viel wichtiger geworden die guten Zeiten mit ihr in Erninnerung zu behalten - denn schlechte Zeiten gibt es immer wieder mal, aber sie vergehen - die guten sollten die Erinnerung darstellen.

Ich hab es lange nicht wahrhaben wollen, aber sie ist tatsächlich der wichtigste mensch in meinem Leben und als das habe ich sie (endlich) schätzen gelernt.

Liisa hat gesagt…

(((creezy))) ... eine wunderbare nachdenkliche und liebevolle Hommage an Deine Mutter.

Ich lebe nun seit zwei Jahren ohne meine Mutter und kann daher einiges von dem, was Du schreibst genau nachvollziehen, weil ich es ganz ähnlich erlebe. Allerdings kommt es eben immer auch darauf an, wie das Mutter-Tochter-Verhältnis zu Lebzeiten der Mutter war, wie man im Nachhinein empfindet.

Bestätigen kann ich, dass die vergehende Zeit manche Ecken abschleift und die - wie Du so schön schreibst - bei einem selbst einsetzende Altersmilde manches überstäubt, egal wie das Verhältnis vorher war. Das ist gut so.

"Warum nur muss ein Mensch immer erst Vergangenheit sein, damit man ihn der Gegenwart so wunderschön komplett sehen kann? All die kleinen besonderen Feinheiten sieht man leider erst in der kompletten Dimension, wenn dieser Mensch nicht mehr ist."

Darüber habe ich auch schon oft nachgedacht und für mich festgestellt, dass es so nicht sein muss. Ich kann schon im Hier und Jetzt bei den lebenden Menschen, die mir nahestehen, versuchen, ein kompletteres Bild zu bekommen. Es ist eine Art Entscheidung, tiefer zu schauen, genauer zu beobachten, mehr wahrnehmen zu wollen als nur den oberflächlichen Schein oder die begrenzte Perspektive. Meine Erfahrung ist, dass es nicht leicht ist, Menschen um einen herum so wahrzunehmen aber es geht, wenn man nur will und je mehr man es "trainiert", um so leichter wird der Perspektivwechsel bzw. die tiefere Wahrnehmung des anderen.

Nathalie hat gesagt…

Mir graut es vor dem Tag, an dem ich nicht mehr täglich (von vielen belächelt) mit meiner Mutter telefonieren kann. Sie ist sehr krank.

Danke für diesen berührenden Blog-Eintrag.

Meinigkeiten hat gesagt…

4 Jahre schon? Die Zeit rast und schleicht doch ohne den geliebten Menschen. Meine Mum hätte heute Geburtstag gehabt .... :(

hajo hat gesagt…

ich neige wirklich nicht zu Sentimentalität, aber manchmal ertappe ich mich dabei, mal wieder zum Friedhof gehen zu wollen wo ich dann "Zwiesprache" halte mit meinen drei verstorbenen Lieben (kleine Schwester, Vater und Mutter), obwohl sie schon mehr als zehn Jahre nicht mehr unter uns sind
.. auch mit 60 ist man davor nicht gefeit.
Du schreibst mit "Wenn man seine Eltern immer mit sich tragen möchte, haben sie nicht viel falsch gemacht." etwas sehr weises, danke!

Ev hat gesagt…

Mit sehr viel Seelentiefe geschrieben und so wahr ... auch wenn ich meine Mutter noch habe, der Verlust meines Vaters sitzt tief und tut nicht weniger weh. Und dieses Abschiednehmen, für mich begann es da, das Erwachsenwerden.

Du schreibst:

"Warum nur muss ein Mensch immer erst Vergangenheit sein, damit man ihn der Gegenwart so wunderschön komplett sehen kann?"

Das liegt einfach in der Natur des Menschen. Die so erlebte Vergangenheit hat eine besondere Sanftheit, die mildert, die verbrämt, die glättet. Das ist ganz in Ordnung.

Einen solchen Verlust zu erleben, ist ein tiefer Einschnitt, der zulässt, so manches zu erkennen, das vorher nicht klar war - und was daraus zu machen.

Danke.

creezy hat gesagt…

@All
Ich danke Euch!

Sven hat gesagt…

Danke.

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