2010-01-23

Haiti

Heute früh lief dann nach den deutschen Spendenbeiträge im Fernsehen, die große US-Spendengala „Hope for Haiti now“ im Fernsehen. Hierzulande übertragen von MTV/Viva, zusammengetragen mit Liveperformances aus NewYork und Los Angeles, weitestgehend organisiert von George Clooney. Das war die etwas andere Spendengala – im Vergleich zur unserigen diese Woche im ZDF. Ein einfach gestaltetes Bühnenbild in blau gehalten, Glühbirnen zur Dekoration, der Hintergrund aus Bannern auf die meist die Bilder von Opfern projeziert wurden. Keine Zuschauer, kein Applaus, die Damen meistenteils entgegen ihrer sonstigen Obsessionen sehr verhalten gekleidet, wenig Schmuck. Dem Anlass angepasst gab es nur wenig Up-Temposongs. Viel Musik, trotzdem viel Stille. Immer wieder wurden die an den Telefonen sitzenden Künstler bei den Telefonaten gezeigt – und es waren unglaublich viele Telefonplätze, die da besetzt waren. Zwischendurch sprachen Künstler und US-Haitianer von den Geschehnissen vor Ort über ihre Heimat, von den Wundern, natürlich durfte Gott nicht fehlen. Zuschaltungen von einem CNN-Reporter vor Ort, berichteten von diesen kleinen Wundern, zeichneten aber auch in einer bisher kaum im Fernsehen gezeigten Dringlichkeit die Folgen der Katastrophe.

Der kleine Junge, der nach acht Tagen aus den Trümmern geborgen wurde, zehn seiner Angehörigen verloren hat, dem nur – oder wenigstens – ein Onkel geblieben ist, dessen Dehydrierung zwar zwischenzeitlich behoben werden konnte aber dessen schwerwiegende Fußverletzungen lange noch nicht so behandelt werden können, wie sie es hätten sollten. Obwohl er unter ärztlicher Betreuung steht. Aber es fehlt an so vielem!

Und krampfhaft versuchen die Ärzte, ihn und seinen Onkel in dem Lager einen Moment länger behalten zu können. Irgendwie – obwohl sie Platz vorhalten müssen für die, die viel schwerer verletzt sind (als ob gebrochene Beine nicht schon schwere Verletzung genug wären).

Den Menschen wurden und werden Gliedmaßen amputiert, um sie überhaupt aus den Trümmern zu retten bzw. weil der Körper der Zeit, die sie unter dem Geröll eingeklemmt waren, Tribut zollt. Oder weil sich kleinste Verletzungen dort unter den schlechten hygienischen Bedingungen entzündet haben. Die Amputationen passierten in Haiti zur Zeit unter freiem Himmel, nun mittlerweile vielleicht sogar in einem Zelt einer Hilfsorganisation, die Menschen sind – wenn sie ganz großes Glück haben – betäubt dabei.

Betäubt heißt, örtlich betäubt. Keine Vollnarkose.

Ein Arzt sagte es deutlich: „Das hier ist keine Notfallmedizin. Das ist Kriegsmedizin.“ Die Ärzte der Hilfsorganisationen betteln um Antibiotika. Antibiotika wurde gestern als meist gebrauchtes Hilfsmittel zuerst genannt, noch vor Wasser. Wie oft habe ich diese Woche Ärzte und Pfleger vor laufender Kamera weinend zusammenbrechen sehen?

Menschen nach sehr schwerwiegenden Operationen werden im Schatten unterm freien Himmel abgelegt und müssen in das zerstörte Nichts zurück, sobald sie nur können, um den vielen anderen Schwerverletzten Platz zu machen. Es gibt momentan kaum eine Möglichkeit der Nachsorge, die dringend notwendig ist. Das heißt Menschen, denen ein Bein oder Arm amputiert werden musste, müssen ohne Schmerzmittel noch Entzündungshemmer zurück in dieses Chaos. Sie können momentan allenfalls Medikamentation in der Erstversorgung bekommen. Sie haben keine Zeit der Rekonvaleszenz, sie erhalten keine Reha, keine Medikamente in der Nachsorge. Ob sie jemals Prothesen bekommen? Im Moment gibt es dort nicht einmal genügend Gehhilfen!

Dieses Erdbeben hat ganze Generationen von Einbeinigen – Menschen mit körperlichen und seelischen Behinderungen – geschaffen, wenn sie denn überleben werden!

Die Ärzte vor Ort sprachen aus, was auf der Hand liegt aber vielleicht einmal deutlich gesagt werden musste. Selbst die Menschen, wie der kleine Junge oben, die gerettet wurden und die wir daher in Sicherheit wägen, sind es nicht. In dem momentanen Umfeld von Staub, mangelndem Wasser, mangelnder Hygiene, den immer noch Tausenden verwesenden Körper der Leichen in den Trümmern, sind Infektionen etwas, dem die Schwerverletzten dort vor Ort kaum entkommen können. Das wird selbst für Leichtverletzte zur tödlichen Gefahr, für die Menschen, die dort Schutt zu beseitigen versuchen und sich nur eine einfache Schnittwunde zuziehen, die sich dort unter den gegebenen Umständen entzünden muss. Menschen, mit „nur“ einem offenen Beinbruch, sterben zur Zeit in Haiti daran. Haiti war vor dem Erdbeben schon ein armes Land, Tetanus-Impfungen sind dort kein Standard. Ihr wisst, was das heißt?

Als ich Kind und krank war, bei einer einfachen Erkältung, gab es Menschen, die sich um mich gekümmert haben. Allen voran meine Mum, die alles stehen und liegen ließ, mich liebevoll umsorgte, für mich kochte, Wickel machte – vor allem aber mich zu jeder Zeit und nach jedem Fiebertraum in den Arm nahm und mir dieses überlebenswichtige Vertrauen ihrer Liebe gab.

In Haiti werden Kindern, denen dieses Erdbeben die komplette Familie genommen hat, Gliedmaßen amputiert und dann liegen sie da notversorgt, sicherlich liebevoll betreut mit der wenigen Zeit, die die Helfer dort vor Ort haben. Sie haben keine Mama, keinen Papa, keinen Onkel, keine Tante, noch eine Oma oder einen Opa, keine Familien mehr, die sie jemals wieder in den Arm nehmen wird. Diese Kinder haben keinen Schnupfen. Sie sind schwer verletzt. Völlig traumatisiert. Und es ist kaum jemand da, der ihnen in diesem Chaos der Katastrophe akut die Last dieses schrecklichen Erdbebens abnehmen – noch Hoffnung auf eine Zukunft machen kann.

Das hat mich einmal mehr zerrissen. Dabei weiß ich insgeheim, ich habe immer noch nur einen Bruchteil dessen begriffen, was diese Katastrophe für die Menschen in Haiti wirklich bedeutet.

Hope for Haiti now
Rettungsanker Haiti
Ärzte ohne Grenzen
Ein Herz für Kinder

2 Kommentare:

Paula hat gesagt…

Danke.

Anonym hat gesagt…

Ich habe gestern entsetzt Gupta zugesehen, der als CNN-Korrespondent in dem Moment eine Zeltklinik besucht hat, in dem das Behandlungsteam seine Sachen und Materialien packte und Gelände verließ, auf Anordung der UN, aus "Sicherheitsgründen". Sie ließen 25 z.T. schwerstverletzte Patienten einfach liegen. Gupta und das Kamerateam blieben und versuchten verzweifelt, die Menschen mit leeren Händen zu versorgen. Die haitianische Sozialarbeiterin des Lagers versuchte, ihn auf den Boden der Tatsachen zu bringen: Er tue sehr viel mit den geringen Mitteln, die er zur Verfügung habe, und für alles Weitere müsse man Gott sorgen lassen. Sie hat recht. Man sollte sich nicht anmaßen, satt und zentralbeheizt von der Fernsehcouch aus die Organisationsfehler vor Ort zu verurteilen. Niemand hier hat annähernd eine Vorstellung vom Chaos dort. Viel Geld fließt, viele Menschen vor Ort tun, was sie können, vielen Menschen wird geholfen, so gut es eben geht. Alles, was getan wird, ist besser als nichts. Maßstäbe funktionierender westlicher Gesundheitssysteme sind nicht anwendbar. Das gilt übrigens für alle medizinischen Hilfsprojekte in Entwicklungsländern, auch ohne Erdbeben.

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