2008-07-02

Windeln

Und als ich vorhin großartigen Brief von Michael an Angie lese, fällt sie mir wieder ein, die Zeit damals, meine erste berufliche Station nach der Ausbildung in einem medizinischen Großhandel, wo ich mich hinbewarb, weil ich Medizin konnte, mich in den Praxen aber nie wohl gefühlt hatte und unbedingt irgend etwas mit einem Rechner machen wollte (damals noch selten!), was ich sehr aufregend fand aber trotzdem musste der Spätdienst, der auch mich turnusbedingt immer mal traf, die Route für die Studenten, die die Praxen mit deren Bestellungen oder ProStatione-Lieferungen als auch die Patienten mit ihren Inkontinez-Produkten belieferten, auf der Schreibmaschine schreiben. Die die Studenten, unsere Fahrer, eh für überflüssig hielten, weil sie sich ihre Touren immer selber zusammenstellten je nach Ort ihrer Mittagspause oder dem verabredeten Rendevous mit der Freundin, was den Lagerleiter immer Sorgenfalten auf's Gesicht schrieb, weil wir den Patienten morgens die Lieferung versprachen, denn sie standen gleich als dritte auf dem Tourenplan und dann aber Mittags um zwei Uhr immer noch kein Fahrer bei ihnen erschienen war.

Und dann fällt mir ein, wie das damals war, wenn mich die Patienten anriefen, weinend, weil die Kasse wieder einmal nur eine einzige Windel dem Patienten pro Tag genehmigen wollte oder nur eine einzige Inkontinenzunterlage pro Woche für's Bett, was den Menschen natürlich immer peinlich war und unangenehm, denn wer will schon den ganzen Tag in einer zugeschissenen Windel sein Tagwerk vollbringen müssen? Oder für das nächtliche Geschehen auf keine Reserve zurück greifen können? Zumal das Thema Inkontinenz damals noch überhaupt kein Thema in der Öffentlichkeit war und einfach schlicht nur mit Scham belegt. Der Arbeitgeber hatte mir verboten, mich jemals reinzuhängen und etwaige Gespräche zu führen, um die sich die Kunden/Patienten selber bei ihren Kassen oder Ärzten kümmern sollten, was sie oft gar nicht konnten, weil sie schon zu debil oder einfach nur zu krank waren und das Pflegepersonal keine Zeit für so etwas hatte oder die betreuenden Familienmitglieder einfach überfordert mit der Situation, manchmal auch schlicht zu dämlich, die Patienten aber in ihren seltenen hellen Momenten oder generell geistig okay, dafür im Rollstuhl leben müssend, spürten, da stimmt etwas nicht mit der Verordnung. Und nie war natürlich derjenige schuld, den ich gerade am Telefon hatte. Oft lag das Versäumnis in der vom Arzt ausgestellten Verordnung, das waren noch die einfacheren Gespräche, die ich natürlich trotz des Verbotes meines Arbeitgebers führte, weil ich dafür einfach noch zu sehr Arztfhelferin und viel zu nahe am Patienten war, denn damals gab es noch keine Budgetierung für die Praxis und die Fehler in der Verodnung lagen oft nur darin zugrunde, weil der Arzt/die Helferin wenig Ahnung über die benötigte Menge der Patienten, Verpackungseinheit oder den Bedarf der Patienten hatten, die ihrem Arzt oft gegenüber nicht ehrlich waren, weil es ihnen einfach sehr peinlich war über die Häufigkeit ihrer «Einmacherlebnisse» zu sprechen, was niemand gerne tut, nicht einmal Kinder tun das leichten Herzens, denen das versehentlich noch nachts mit zehn Jahren vielleicht in einem Albtraum passiert oder weil Schlimmeres auf ihrer Seele lastet. Ähnliches galt für die Gespräche mit den Krankenkassenangestellten, die auch oft zu wenig Windeln genehmigten, weil sie das «X» für «Groß» als eine Zehn lasen und deswegen dachten, 10 Windeln reichen für 30 Tage. Wir reden gar nicht davon, was mal war, wenn der Monat unverhofft 31 Tage hatte, die Verordnung aber nur von 30 Windeln sprach oder umgekehrt und es dem Sachbearbeiter auf der Seele lag, nun eine einzige Windel zuviel zu genehmigen für einen kürzeren Monat. Und manchmal gab es einfach kein Gespür dafür, warum ein Patient, der tagsüber in die Windel machte, das Nachts auch nochmal tun sollte oder wieso er zusätzlich zur Windel noch Betteinlagen bräuchte. Aber das waren Dinge, die waren oft zu klären, denn im Grunde wollten die allermeisten Kassen, nicht alle jedoch, ihren Versicherten den Bedarf gar nicht streitig machen, nur, zuviel genehmigen wollten sie natürlich auch nicht, irgendeiner schaute denen ja auch auf die Finger.

Und manchmal schickte ich dann doch vorab eine Lieferung an den Patienten, obwohl die Genehmigung noch schwebend auf dem Postweg in der Luft lag, denn wir faxten damals noch nicht, ein einziges Gerät stand im Büro des Geschäftsführers meistens still, wir kommunizierten Bestellungen noch per Telex. Ich es trotzdem nicht ertragen konnte zu wissen, der liegt da seit drei Tagen in seiner eigenen Scheiße, weil der Sachbearbeiter der Krankenkasse nun mal im Urlaub war und die Vertretung die Genehmigung erst auf dringende dreimalige Anrufe hin sich bereit erklärte, vertretungsweise den Antrag zu bearbeiten, das Wochenende aber bevor stand und die schiere Panik des Patienten durch die Telefonleitung kroch. Und das hätte mich den Job gekostet, wäre das jemals aufgeflogen, was es ratzfatz wäre, wenn so ein Patient dann so dreist gewesen wäre, in diesem Zeitraum justamente abzukratzen, aber zum Glück hielten sich meine Kunden in diesen besonderen Momenten stillen Einvernehmens an unseren kleinen Deal und blieben weiter scheißend aber wenigstens nicht wund mir bei der Stange.

Daran musste ich denken, weil wir damals im Grunde keine Probleme hatten oder nur welche, die etwas mit mangelnder Kommunikation zu tun hatten und da konnte man in 99,9 % der Fälle darüber reden. Aber heute, heute wird budgetiert und heute wird nicht verordnet, was im Leistungsplan nach den vielen Gesundheitsreformen nicht mehr verordnet werden soll und da hat der Patient dann eben nur noch einmal am Tag in die eine von den anderthalb bewilligten Windeln zu scheißen, weil die zweite halbe Windel nur für das urinale Geschäft ist, wenn sie ihm denn überhaupt heute noch zwei am Tag gönnen und ich will gar nicht an die Telefonate denken, die meine Nachfolger heute vielleicht führen müssen, wenn sie die überforderten heulenden Familienmitglieder am Telefon haben, so wie ich damals, denen eh alles über den Kopf wächst, die keine Zeit für so einen Kleinkrieg haben, weil im Hintergrund die Oma, der Vater während des gesamten Gespräches vor Krebsschmerzen laut schreit, da können mir heute stärker die Tränen die Wangen runter laufen, weil ich ahne, wie leicht wir es damals noch hatten obwohl wir dachten, wir hätten es schwer und die Welt wäre noch ungerechter zu denen, die eh schon krank sind und es nicht leicht haben. Aber das ist alles gar nichts im Vergleich zu dem, was sich heute abspielt, wo Morphin wirklich sanktioniert wird, nicht weil man es nicht hat in dieser verdammten überreichen Welt, sondern weil es keinen betriebswirtschaftlichen Sinn für die Sozialgemeinschaft ergibt es einem Menschen, der eh krepieren wird, über einen statistisch ermittelten Wert hinaus zu genehmigen.

Und dann düppeln deutsche Zeitungen auf einem Politiker rum, der sich zur Sterbehilfe bekennt einer alten Dame gegenüber, die genau überhaupt keinen Bock mehr auf diese Gesellschaft hatte, die ihr die Menge der Kotprozesse am Tag vorrechnen wollte. Was ich wirklich sehr gut nachvollziehen kann. Und natürlich ist dieser Fall nicht so einfach zu beurteilen und keinesfalls etwas, was man Nachahmern so einfach machen sollte. Aber ich will nicht krank oder alt werden müssen in dieser Gesellschaft, die null Respekt vor ihren unschuldigen Kindern hat, auf die diese Gesellschaft aber dennoch baut; warum sollte sie ihn dann nur ansatzweise vor ihren alten oder gebrechlichen Mitmenschen haben sollen, die ihren Soll bereits erfüllt haben und nur noch windelbrauchender verbrauchter menschlicher Abfall sind? Keine Zweifel habe ich, sondern nur pures angstmachendes Wissen.

Danke denen, die bis hierhin durch gehalten und gelesen haben. Danke Michael für die traurige Inspiration.

Lesempfehlung: Der Tod und das Mädchen / blog off

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo, mein erster Kommetar hier, ich lese schon ein Weilchen mit, zu dem Thema muss ich was schreiben.

Es ist beklemmende Wahrheit, meine Mutter starb kürzlich zu Hause nach längerer Pflegephase. An den Windeln hat es uns - dank genügend Geld - zum Glück nicht gefehlt. Die Pflegerin vom Krankenverein, die uns unterstützt hatte, hat sich riesig gefreut, dass sie die übrigen Windeln mitnehmen konnte um an solchen 31er Tagen oder 20% über Durchschnitt Stuhlgang-Tagen aushelfen zu können ... die Unmenschlichkeit, die sich eingeschlichen hat ist unfassbar ... Danke für den Beitrag, den Brief von Michael habe ich auch gelesen.

Anonym hat gesagt…

Zu den Windeln: Die Verordnung von Hilfsmittel, wozu auch Windeln zählen, sind (noch) nicht budgetiert. Diese Hürde sollte eigentlich nicht existieren (Ich weiß, dass es Kollegen gibt, die das nicht wissen!)

Und zur Sterbehilfe kann ich nur sagen, dass wir uns vielleicht nicht primär für diese, sondern für eine anständige Palliativversorgung einsetzen sollten. Die haben sich unserer Gesundheitspolitiker zwar schon wortreich auf die Fahne geschrieben, die scheint aber nur für einige Patienten zu existieren. (Besonders werbewirksam in diesem Zusammenhang: Kinderhospize! Die brauchen wir, gar keine Frage, nur ist den meisten Eltern eines sterbenden Kindes wohl mehr damit gedient, wenn man eine optimale Pflege zu Hause gewährleistet. Der Mangel liegt also eher ganz woanders, nämlich da, wo es kein "zu Hause" keine Angehörigen gibt, wo alte Menschen sterben. Und das tun wir ja alle mal, sterben. Ein Vorgang, der je nach Erkrankung Jahre dauern kann, wie z.B. bei einem Demenzkranken. Der stirbt über Jahre, langsam.
Der braucht eine ausreichende Pflege, über Jahre.
In der ganzen Diskussion über die Sterbehilfe habe ich immer ein wenig Angst, dass damit die Tür zum "Entsorgen" erst aufgestoßen wird. Denn wäre das nicht die preisgünstigste Variante? Mich schüttelts, wenn ich nur daran denke.

Anonym hat gesagt…

1. zum Budget hat pepa schon alles gesagt. Es gibt keine Berufsgruppe die weniger Ahnung von den eigenen Regeln und den für sie gemachten Regeln hat als jene der Medizinfrauen und -männer.

2. der schlüpfrige Weg zur Entsorgung unwerten Lebens ist von Binding und Hoche (1920) aufgezeichnet worden. Unter dem Titel "Mitleidsethik" kann man damit in der Philosophie eigentlich keinen Blumentopf mehr gewinnen. Nicht für alles, was gemacht wird, braucht man Regeln. Sie werden häufig gefordert von denen, die damit in die Verantwortungslosigkeit entfliehen wollen.

3. Immer wenn ich zu solchen Beschwerden nach Namen und Daten frage bekomme ich … nichts. Anonym schimpfen ist eine Sache, sich aktiv auseinander- und durchsetzen eine andere Sache. Und auch da hat pepa recht: wer alleine ist kann sich nicht wehren. Die sind entschuldigt, für die setze ich mich auch so ein.

creezy hat gesagt…

@aebby
Erst einmal, das tut mir leid mit Deiner Mutter. Ich hoffe, es geht Dir/Euch langsam wieder … Gut finde ich, dass Ihr die Produkte abgegeben hat. Das tun viele nicht, weil es natürlich auch wieder Aufwand ist.

@pepa
Ja pepa, noch mögen sie nicht budgetiert sein in diesem Sinne. Dennoch waren sie das schon immer, denn ich erinnere mich sehr wohl, dass meinen Kunden gelegentlich von des Sachbearbeiters Seite die verschriebene Menge der Windeln am Tag nicht komplett bewilligt werden sollte. Oder eben ganz klar befunden wurde, wer Windeln hat, braucht keine Bettunterlage. Und wenn das 1984 schon ein Thema war, wird es das heute garantiert kein Geringeres sein. In vielen Bereichen der Gesundheit wird doch stark damit spekuliert, dass Patienten keine Kraft oder Zeit mehr haben, in Widerspruch zu gehen. Das ist für mich auch eine Form der Budgetierung … gut, kein offizielle. Aber an die glaube ich auch noch. Irgendwann wird es heißen maximal zwei Windeln am Tag und gut ist.

Die Diskussion zur Sterbehilfe ist eine, die – hoffentlich – nie zum Abschluss kommen wird. Mir ist nicht wohl dabei, sie zu legalisieren. Mir ist aber auch nicht wohl dabei, irgendwann einem System ausgesetzt zu sein, das mich nicht als wertvoll ansieht, weil ich alt oder krank bin. Wir müssen hier in Deutschland uns sehr schnell (im Grunde ist es schon zu spät) darüber einen Kopf machen, wie wir mit diesem alternden Deutschland sozial und menschenwürdig umgehen wollen. Der Abbau von Sitzbanken, das Genehmigen von Gaststätten in denen die öffentlichen Anlagen nur über Treppen zu erreichen sind, gehören genauso wenig dazu, wie eine Betreuung von alten Menschen nach 08/15. Im übrigen sehe ich den Mangel an Betreuung gar nicht nur bei denen, die keine Familie haben. Generell wird unser Verfall und was er mit sich bringt bei uns allen strikt ausgeblendet. Ich habe ja selber bei meiner Mutter meine eigene Inkompetenz gespürt. Zumal man das heutzutage bei dem ganzen Bürokram und Anträgen auch als Berufstätiger kaum mehr bringen kann.

@wolf
1.: Das mag sein aber wie ich schon oben bei pepa ansprach, es gibt ja auch viele Möglichkeiten, um «inoffiziell» zu budgetieren. Und Du weißt am Besten, das wir im Rahmen der Sparpolitik im Gesundheitswesen noch lange nicht den Zenit erreicht haben. Da passiert noch viel.

2.: .

3: Das liegt mit daran, dass der Deutsche bequem und feige ist (ich sehe es gerade wieder bei cimdata, keiner ist zufrieden mit der Dozentin, eine macht den Mund auf.) Es liegt aber auch mit daran, dass Menschen, die sich in der Pflege für einen Menschen aufrauchen, gleichzeitig Geld verdienen müssen, sich um die Familie kümmern wollen weder Zeit noch Nerven habe, um dieses Kämpfe auch noch anzugehen. Die Allerwenigsten. Und da hab ich auch Verständnis für.

Anonym hat gesagt…

Creezy, klar! Es gibt noch ganz andere Wege der Rationierung, aber hallo!
Ich wollte damit auch nur sagen, dass, wenn man von seinem Arzt bezüglich Hilfsmittelverordnungen zu hören bekommt, "Da darf ich ihnen nicht mehr von aufschreiben!", dann ist das einfach falsch. Bei Hilfsmitteln darf er (wie gesagt: noch!) ohne einen Regress befürchten zu müssen - bei Arzneimitteln darf er nicht. Das muss man manchen Kollegen halt immer noch sagen.
Dass es ab und an Kassenmitarbeiter gibt, die auf eigene Faust mal eben etwas rauskürzen mag sein. Das liegt vielleicht auch in der Natur der Dinge: Bei den Kassen sitzen (Wolf korrigiere mich bitte, wenn ich jetzt Blödsinn erzähle) hauptsächlich Sofas (Sozialversicherungsfachangestellte, oder so ähnlich) mit offenbar ganz unterschiedlicher Ahnung von der Materie (ich habe auch schon mit ausgesprochen fitten Jungs und Mädels dort telefoniert - muss man ja auch mal sagen.)
Aber bald, bald kommen für die HiMis ja auch Rabattverträge, ähnlich wie bei den Arzneimitteln, gelle Wolf? Bin gespannt, ob es dann ein vergleichbares Chaos gibt, wie bei den Medikamenten.

Anonym hat gesagt…

Ich fand es schrecklich zu lesen, dass die alte Dame nicht mehr leben wollte, weil sie Angst vor dem Pflegeheim hatte. Sie sagte auch, dass sie nicht leide. Man hätte sie dazu bewegen müssen, es wenigstens zu probieren mit dem Heim.

Anonym hat gesagt…

ja. und selbst wenn man die Verordnung hat, kann es passieren (war bei uns so), dass es zwei wochen dauert, bis zum beispiel eine dekubitusmatraze lieferbar ist. bei meinem opa war das so. 5 Stunden nach seinem Tod (wundgelegen leider und eben auch natürlich, wir hatten nur 1 Schaffell) kam dieses Ding. Da hat man keinen Humor mehr.

Ich kann jeden verstehen, der das nicht will, aber ich habe fürchterliche Angst davor, dass das der Ersatz für vernünftige Palliativmedizin/Pflegepolitik usw. wird.
Wir schaffen in unserer Gesellschaft so unmenschliche Bedingungen, dass die Betroffenen sich lieber umbringen. Praktisch. Keine Belastung der Sozialkassen und zum vererben bleibt auch was übrig. Also als Erbe müsste ich meine Angehörigen direkt zum Vorzeitigen Hinscheiden überreden finde ich.

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