Dieser Dirigent ist Rock'n Roll
Am Freitag Abend war ich zum Eröffnungsfest zur neuen Spielzeit des Konzerthausorchesters Berlin am Gendarmenmarkt eingeladen. Die Eintrittskarten versprechen Stehplätze im Parkett. Ein Aprilscherz im August, hoffe ich noch naiv. Aber nein, Chefdirigent Lothar Zagrosek schätzt es, wenn sein Publikum zur Eröffnung seiner zweiten Spielzeit im Haus größtenteils steht. Das ist an sich in Ordnung, es gibt dem ersten Teil des Abends, der vorzüglich musikalisch präsentiert und spannend filmisch untermalt wird, eine gehobene Lässigkeit und hier und da die Freiheit, sich der Musik körperlich hinzugeben. Ach, wenn wir Frauen, die wir doch gerne solche Abende nutzen, um uns betont aufzuhübschen, nicht nur immer diesem Schuhrausch erliegen würden und gerade dank solcher Anlässe niemals Schuhe tragen, in denen wir länger zu stehen wünschen. Ich schwächelte und wechselte irgendwann zu meinem „später für die Heimfahrt auf dem Rad dabei“-Schuhwerk. Nur eine Dame traute sich, ihre Schuhe auszuziehen und barfuss zu lauschen. Den Mut hätten andere Anwesende wohl auch gerne gehabt.
Ein klassisches Konzert ohne Stühle? Alles hat seinen Grund, in diesem Fall einen sehr verständlichen. Hier wurde schließlich ein Orchesterfest zur Saisoneröffnung zelebriert und im späteren Verlauf des Abends der Nacht durfte getanzt werden. Lothar Zagrosek weiß, die besonderen Feste so besonders zu feiern, wie sie fallen.
Der Mann hat Visionen für das Haus und Orchester, dem er seit der Spielzeit 2006 erst vorsteht und seine Visionen tun dem Konzerthausorchester vor allem dem Berliner Publikum gut. Wer hier noch dem alten Glauben frönen möchte „klassische Musik sei langweilig und verstaubt“, möge sich um Himmelswillen von Zagrosek fernhalten. Der Mann ist der geborene Bezlebub solcher Vorurteile. «Berlin – Sinfonien einer Großstadt» und der grandiose Solist Georg Blüml singt das «Lied von der belebenden Wirkung des Geldes» und viele mehr. Gespielt werden Stücke von Komponisten, die dieser Stadt in den 20iger Jahren des 19. Jahrhunderts eng verbunden waren: Edmund Meisel, Ernst Krenek, Hanns Eisler und Kurt Weill. Da ist jemand mit wachen Augen durch diese Stadt gegangen, um die Lieder des vergangenen Jahrhunderts akuter, wahrer und aktueller denn je erscheinen zu lassen. Nebenbei ist klar zu sehen, Orchester und Dirigent mögen sich, der Große Saal des Konzerthauses mag seine Musiker und lässt das Publikum sich wohl fühlen, das wiederum die Musik sehr mag, das Orchester und den quirligen Dirigenten sowieso und alle verlieben sich wieder einmal mehr in diese Stadt – Treffer versenkt.
Das wirkt nach in der Pause auf den Stufen des Konzerthauses in einem lauen Sommerabend. Wo kann man denn schöner Pause zelebrieren in dieser Stadt? Um 22:00 Uhr (!) der zweite Teil des hervorragenden Festnacht, es spielt auf: das Publikumsorchester. Alleine sieben Flöten erscheinen in dem aus ca. 160 Laienmusikern existierenden Ensemble. „So viele können sich nicht einmal die Philharmoniker leisten!“, schwärmt der Maestro. Ein komplettes Orchester, das zwar im Vorfeld ca. 2 Monate lang die Partitur zur Moldau üben durfte – aber vorher noch nie zusammen gespielt hatte, trifft sich erstmals in voller Besetzung auf der Bühne, lässt sich von Zagrosek ungefähre 50 Minuten charmant, galant, witzig durch die schwierigen Flussbiegungen schiffen, um dann einmal komplett Smetanas Moldau zu spielen. Und sie waren verdammt gut. Was für ein sehr faszinierendes, wunderschönes, auch so humorvolles und einmaliges Erlebnis! Wenn Musik Leidenschaft bedeutet, dann hat sie an diesem Abend jeden von uns erfasst. Danach schwebte wohl jeder im Haus!
Der passende Abschluss einer Berliner Nacht, das „Capital Dance Orchestra“ lädt zum Tanz mit den Melodie der „Goldenen Zwanziger“ und spätestens beim zweiten Stück tanzt der gesamte um immerhin ein Uhr morgens noch sehr volle Saal. Sie haben alle nur darauf gewartet.
Eine der schönsten Berliner Sommernächte in diesem Jahr. Schön, dass Sie in der Stadt sind, Herr Zagrosek, Sie tun Berlin gut!
3 comments:
Schön, wenn wer wagt, alten Staub abzuwischen, die Fenster zu öffnen und frischen Wind hereinzulassen. Und wenn das Herz auch noch dabei ist, wird es andere mitreißen und rühren können. Schöner Text zu einem Ereignis, bei dem ich gern dabei gewesen wäre. Hach...
@ole
Danke, so ein Kommentar liest sich sehr wohltuend! Das nächte Mal nehme ich Dich mir, ich bin immer noch sehr glücklich über diesen schönen Abend.
Hallo,
ja es war ein schönes Konzert.Aber auch mir schmerzten in meinen Herrenschuhen nach einem langen Arbeitstag und 4 Stunden Konzert die Füße. Die Freitreppe ist eigentlich der schönste Ort in Berlin für eine Pause, sei sie im Konzert oder während eines Spaziergangs. Übrigens, im letzten Jahr war nach dem Konzert Tanz und Musik in allen Sälen. Und die Lieder des diesjährigen Konzerts haben an Aktualität nichts verloren, auch wenn sie in den zwanziger Jahren geschrieben worden. Auf eine neue Saison im Schauspielhaus freut sich
ubero
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Fröhlich sein, freundlich bleiben und bitte immer gesund wieder kommen!
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