2006-07-13

Spree-Praline

Eines vorneweg: Ingrid sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Sie hat böse Gleichgewichtsprobleme, ein Ödem im Bauch und von der Pracht ihres schicken weiß-mahagonibraunem Outfits ist so viel übrig geblieben wie von ihrer Verglasung – wenig. „Dr. Ingrid Wengler“ liegt abgewrackt vor den Treptowers in Berlin und verursacht – so sind wir Frauen nunmal – einigen Herren böse Magenschmerzen.



Ich mag Wracks. Habe meine eigenen Beziehung zu ihnen, vielleicht weil sie so viele aufregende Geschichten erzählen, die ich mir dennoch selber ausdenken muss. Nachdem ich Ingrid letztes Jahr unter dem sommerblauen Himmel fotografiert habe, wie sie dort seit neun Jahren malerisch melancholisch abwrackend vor der imposanten neuen MTV-Zentrale liegt, sich um die edle Präsenz eines Twin-Towers, einer Allianzprachtimmobilie und dem netten Kunstgeschenk derselben, dem _Molecule Man_ keinen eitlen Pfennig Cent scherrt und völlig ungeniert weiter verfällt, habe ich mich auf die Suche nach ihrer und der Geschichte der Namensgeberin gemacht.

Ein Boot mit Doktortitel habe ich noch nie getroffen. Dass ein Boot einen Vor- und Zunamen trägt, ist in der Welt von „Aphrodite“, „Schätzchen“, „Eloise“, „Sonnenstern“ oder „Hannibal“ selten zu finden. Okay, „Moby Dick“, das ist aber eher die literarische Ausnahme. Meine ersten Recherchen erzählen mir von einer Vergangenheit von „Dr. Ingrid Wengler“ als Fahrgastschiff der sehr späten DDR. Da war klar: die Frau muss ziemlich Vodkafest gewesen sein. Eine spannende Information, dennoch nur eine Fehlinformation. Der nächste Hinweis wirft ein völlig neues Licht auf Ingrid: Sie war in früheren Jahren im Rhein-Main-Gebiet unterwegs, sofort sehe ich „Dr. Ingrid Wengler“ am Wein nippen oder 'nen Kölsch löschen. Ihr Glück: jetzt badet sie wenigstens in der Spree.

Aber Ingrid ist vorher gut ‘rumgekommen. Ihr Eigentümer und Kapitän Günther van de Lücht, kauft den 1959 gebauten Frachter, der zunächst über den Dollart in Ostfriesland segelt, 1977 und lässt das Schiff in Nürnberg für 2,7 Millionen Deutsche Mark und mit allen möglichen technischen Raffinessen umbauen. „Dr. Ingrid Wengler“ hat von nun eine Bodenheizung mit einer Wärmerückgewinnungsanlage. Er tauft das Schiff nach seiner großen Liebe um, seiner wenige Jahre zuvor bei einem Autounfall tödlich verunglückten Ehefrau, Dr. Ingrid Wengler, die Handchirurgin gewesen war.



Als die Mauer fällt, veranstaltet van Lücht noch erfolgreich Reisen für anspruchsvolle Kunden, die von Frankfurt über Rhein und Mosel nach Nancy, Straßbourg und zurück nach Frankfurt schippern wollen. In den 90igern plant er ähnliche Touren von Berlin über die Havel, Mecklenburgische Seenplatte nach Schwerin anzubieten. In Berlin nimmt das Verhängnis von Ingrid seinen Lauf, die erste Saison läuft nicht besonders glücklich, in der zweiten Saison wünscht eine Bank vorzeitig die Rücklösung eines gestellten Kredites, 1993 schon befährt „Dr. Ingrid Wengler“ als insolvente Größe die Spree. Liest man die von "Michael Bartnik genauer recherchierte Geschichte von Günther van de Lücht und seiner „Dr. Ingrid Wengler“ dann kommt die abergläubische Schifferseele zu der abschließenden auf allen Seen und Meeren geltenden Weisheit: „Ein Schiff tauft man niemals um, denn das bringt Unglück.“

Aktuell macht „Dr. Ingrid Wengler“ Probleme. Zwei Bauherren haben Großes vor mit dem Uferareal vor den Treptowers. Das subkulturreiche Gelände soll in einen tollen Yachthafen umgewandelt werden, mit tollem Clubhaus, tollen Cafés, einem alten Zollsteg, der ganz toll in das neue Bauvorhaben, einem tollen Verbindungsneubau, eingebunden werden soll und vielen anderen tollen Dingen, die die Berliner toll bespaßen solle.

„Dr. Ingrid Wengler“ muss somit weg. Sie gehört zwar ganz charmant zum Bild des alten Zollstegs. Aber toll ist sie mitnichten. Für die Entsorgung ist der Eigentümer zuständig. Dem die finanziellen Mittel für Hebung und Instandsetzung fehlen; und so vermisst er sie auch für die Verschrottung. Denn das ist das Hässliche an großen Booten: selbst wenn sie nicht mehr durch den TÜV kommen, die Entsorgung – zumal bei erfolgtem Wassereintritt – ist unglaublich teuer. Nun könnte man denken, der Treptower Yachthafen, das ist so ein tolles Projekt mit € 4 Millionen Bauvolumen, sollen die Bauherren die lächerlichen paar € 100.000 investieren und der Madame ein friedliches Ende bereiten. Der Steuerzahler (von den beantragten Fördergeldern) zahlt‘s mit Freude. Aber auf Ingrid, ganz Dame in diesem Punkt, lastet noch eine Hypothek von ca. 130.000 Euro, sie gehört zur Konkursmasse. Sich aber an Konkursmasse zu vergreifen, ist bekannterweise ein nur selten attraktives Geschäft. Ohne Hypothek könnte man den berühmten einen Euro in den Kaufvertrag setzen – aber so? Schrott für 130.000,– Euro kaufen, nur um ihn für weitere sechsstellige Eurosummen verschrotten zu lassen? Da kommt bei den Bauherren wenig Enthusiasmus auf.

Im Frühjahr 2006, als die Baumaßnahmen quasi in den Startlöchern standen, tönt der eine Bauherr noch großspurig: „Notfalls baue ich den Yachthafen um das Wrack herum!“ Im Herbst des letzten Jahres schon sollten erste Schiffe im neuen Yachthafen festmachen können. Still ruht der See äh das Ufer vor den Treptowers auch noch um diese Zeit. Von Bauwerkzeugen ist nichts zu sehen.

Gelernt habe ich bei meinen Recherchen: „Dr. Ingrid Wengler“ ist eines von vier Wracks die in Berlins Gewässern liegen. Zwei davon unterhalb der Wasseroberfläche. Von allen vier Schiffen sind die Besitzer nicht liquide, um eine Abwrackung ordnungsgemäß zu leisten. Die Stadt ebenfalls nicht. Und ich bin auf diese interessante Homepage gestoßen, einem Archiv für Seenotfälle, geführt seit 1996.



„Dr. Ingrid Wengler“ liegt also quer. Künftig können wir sie uns anschauen und liebevoll denken „Du charmanter betagter Schrotthaufen bist also 130.000,– Euro wert. Und erhältst uns auf Deine Weise erst einmal unsere Subkultur.“

Edit: Die Spree-Praline 2010

4 Kommentare:

daniela hat gesagt…

Schöner Text.
Und ich warte auf "Dr. Wengler" Teil zwei!

Anonym hat gesagt…

Großartiger Beitrag! Ich werde auf Ingrid achten in Zukunft!

creezy hat gesagt…

@daniela
Ich arbeite daran!

@burnster
Ich bitte darum! Und bitte immer höflich zu ihr sein! ;-)

Anonym hat gesagt…

die "Dr. Ingrid Wengler", Baujahr 1959, erhielt ihren Namen nach der einstigen Frau von Kapitän Günther van de Lücht. (laut berliner zeitung, 6.11.98)

Kommentar veröffentlichen

Fröhlich sein, freundlich bleiben und bitte immer gesund wieder kommen!