2017-10-25

Kinder und das Sterben

Dieser Aufruf von Thomas Achenbach in seinem Blogpost „Bitte nehmt auch die Kinder mit … ans Sterbebett, ins Krankenhaus, ins Hospiz!” hat mich wiederum zu diesem Blogpost inspiriert!

Und vor allem deswegen, weil ich das dumme Gefühl habe, dass heutzutage die Kinder – dank dieser Helikopter-Problematik – noch viel mehr vermeintlich beschützt werden von den Eltern in schwierigen Situationen, als es zu meiner Zeit schon üblich war. Wenngleich damals das weniger zum Schutz von uns Kindern diente (in meiner Familie) als überhaupt der Unfähigkeit der Erwachsenen sich der Situation mit dem Sterben und dem Tod zu stellen. Die Kriegsgenerationen unterschiedlicher Dekaden – eine sehr eigene Geschichte.

• Mein Erleben als Kind beim Sterben meines Großvaters. Ich war zehn Jahre alt. Erklärend muss man hinzufügen, dass damals Kinder unter einem bestimmten Alter nicht so einfach in Krankenhäuser zu Besuch durften, schon gar nicht auf Intensivstationen.

Es hieß eines Tages, mein Opa ist sehr krank und so war er von einer Sekunde auf die andere weg – im Krankenhaus. Für sehr lange Zeit. Für das ihn vermissen, das nicht begreifen, was das alles bedeutet, dafür gab es keinen Raum. Alles war plötzlich mit mit Sorge überzogen, man sprach von Zeiten ohne unseren Opa und ich hatte überhaupt keine Ahnung, was mir das sagen sollte und vor allem: wohin mit mir in dieser Zeit. Ich wusste nicht einmal, ob ich fröhlich sein durfte – wenn Opa so krank war und Oma so sorgenvoll und traurig. Das Wort Krebs verstand ich nicht in seiner Bedeutung. Ich hatte bei Oma in der Großküche einmal einen Hummer gesehen, das war für mich ein Krebs meinem Verständnis nach. Irgendwann entließ man meinen Großvater – wohl zum Sterben – noch einmal nach Hause und so stand ich am Bett eines mir gänzlich unbekannten Mannes, den ich in Folge des massiven körperlichen Abbaus gar nicht wieder erkennen konnte. Ein Mann, der mir still zulächelte, völlig entkräftet. Ich durfte nicht lange bei ihm bleiben, schon gar nicht alleine – um ihn zu schonen. (Vermutlich meinten meine Eltern auch mich schonen zu müssen.) Ich hatte gefühlt keine zehn Minuten mehr mit meinem Opa. Gestorben ist er dann kurze Zeit später doch im Krankenhaus – also wieder keine Nähe und kein Erleben. Er war einfach weg.

Mich hat das als Kind sehr traumatisiert, auf zwei Ebenen – dieses Sehen und Erleben meines Opas in diesem Zustand, weil es überhaupt keine Vorbereitung gab. Die es unter diesen Umständen auch gar nicht geben konnte. Aber deswegen bin ich so froh, dass Kinder heute in die Krankenhäuser gehen dürfen und geliebte Menschen beim krank sein begleiten können – nicht für die Kranken, sondern für sie selbst. Es gibt ihnen die Möglichkeit begreifen zu können, Fragen zu stellen, vorbereitet zu sein.

Das zweite Trauma: das Gefühl meinen Opa alleine gelassen zu haben als er krank und sehr hilflos war – denn ein Verantwortungsgefühl ist bei einem Kind in dem Alter schon extrem ausgeprägt. Ich vermisse so sehr heute noch, dass man mich damals nicht einfach zu ihm noch einmal ins Bett und mit ihm kuscheln ließ – und ich mich selbst in meinem eigenen Raum der Zeit an seinen Zustand gewöhnen durfte. Dieser Schmerz, wie man mich aus dem Zimmer führte und ich fühlte, dass ist schrecklich was da passiert – diesen Umstand „jemanden ein letztes Mal zu sehen”, den kannte ich damals noch nicht, dennoch fühlte ihn ganz deutlich.

Immer ist das Gefühl geblieben, ich hätte ihm noch viel geben können von meiner Liebe, wenn man mich bei ihm gelassen hätte. Und ich habe meinen Opi wahnsinnig geliebt und verehrt. Das nagt noch heute!

• Als der Anruf kam, der meine Mutter über den Suizid meiner Oma informierte und sie am Telefon zusammenbrach, war ich anwesend. Ihren Schrei werde ich nie vergessen – aber dass ich dieses Geschehen genauso nah wie meiner Mutter erlebte und im Grunde verstehen konnte, was mit ihr in der Folge passierte, das hat mich dieses Tod weit weniger traumatisiert erleben lassen – als er es hätte unter den besonderen Umständen eigentlich müssen. Ich habe das alles 1:1 mit meiner Mutter gehört und erlebt, da war keine Schonung und fremde Interpretation. Ich musste da mit ran und durch, gemeinsam mit allen anderen. Das habe ich im Nachhinein mit weniger Schaden für mich erlebt als die vorherigen Schonversuche bei meinem Opa.

Davon abgesehen hatte meine Oma mit uns Kinder oft darüber gesprochen, dass es besser sei, wenn sie nicht mehr wäre. Sie würde meiner Mutter und mir (mein Bruder lebte damals schon nicht mehr bei uns) nur Sorgen bereiten und zur Last fallen. Sie hatte uns über die Jahre, die wir sie am Abend nach dem Besuch bei uns zum Bus brachten, nie im Zweifel gelassen, dass sie dieses Lebens müde sei. Meine Mutter hatte ihr irgendwann untersagt, ihr so etwas zu sagen. So erzählte sie es uns – als Geheimnis. Und wir Kinder erzählten ihr, dass wir sie lieb hätten und sie bei uns behalten wollten. Das war ein bisschen wie ein Spiel für uns. Ich kannte damals die Tragik dahinter ja nicht. Ich war zwölf Jahre alt. Ich hatte zwei Jahre zuvor erfahren, dass geliebte Menschen wegen schrecklicher Krankheiten sterben. Ich hatte noch so gar keine Ahnung davon, dass es die Möglichkeit gab, dass Menschen diesen Zeitpunkt selbst bestimmen konnten. Das Gefühl war ambivalent, ich wusste, meine Oma wollte das so und somit war es wohl irgendwie gut so, als es passierte – für sie. Aber ich sah, dass meine Mutter sehr darunter litt. Nicht nur ein Tod – ein Suizid. Anderes Level. Nicht nur alleine unter dem schrecklichen Tod, auch unter dem folgenden unschönen Familiengedöns.

Ich konnte damals nächtelang nicht schlafen, weil ich in meinem Zimmer durch den Vorhand das Fensterkreuz sehen konnte – und in der Fantasie immer dort meine Oma hängen sah. Kinderfantasie. Irgendein Mischmasch von mal etwas im Fernsehen aufgeschnappt. Meine Oma hatte sich an einem Abflussrohr in der Herrentoilette im Altenheim stranguliert. Ich lernte dass die Seilstärke und Fallhöhe den Unterschied zwischen Strangulation und Genickbruch im Sterben ausmacht. Das ist sehr krass für eine Zwölfjährige, war aber die absolut notwendige Auseinandersetzung, um dieses Bild im Kinderzimmer irgendwann wieder vor die Tür setzen zu können. Ich bin mit dem Suizid meiner Oma gefühlt mehr als Erwachsene im Reinen als mit den anderen Sterbefällen in meiner Familie.

• Als mein Vater starb, war ich neunzehn Jahre alt. Dem Gesetz und der Lebensumstände nach erwachsen mit Schulabschluss und Ausbildung und die ersten Wochen in der ersten eigenen Wohnung lebend. Und immer noch ein Kind, sein Kind. Dass meine Mutter nicht den Mut fand mir klipp und klar zu sagen, dass mein Vater sterben würde, sondern das ihrem damaligen Lebenspartner überließ zu tun – der der letzte Mensch war von dem ich das hätte hören wollen, der auch der letzte Mensch war, den ich überhaupt in einer solchen Situation des Erfahrens dabei hätte haben wollen, war schlimm für mich. Das hatte in der Beziehung zu meiner Mutter einen immensen Knacks gegeben, dass sie sich nicht in der Lage sah, die mir diese Nachricht liebevoll und schonend zu vermitteln.

Heute weiß ich natürlich, dass das eine ganz besonders schlimme Herausforderung ist für ein Elternteil solch eine Nachricht dem eigenen Kind zu vermitteln und dennoch: ich hätte es damals aus dem Mund meiner Mutter ganz anders ertragen können. Das war ein Vertrauensbruch, der mich sie nicht die wichtigen Fragen stellen ließ. (Meine Mutter arbeitete damals in der Lungenfacharztpraxis in der mein Vater zur Behandlung war als Lungenkrebspatient.)

• Nachdem mein Vater gestorben war und beerdigt werden sollte, entschlossen mein Onkel und meine Tante meine Cousine, die zu dem Zeitpunkt auch schon zehn war, nicht an dem Begräbnis meines Vaters, ihres Onkels teilnehmen zu lassen. Sie sei zu jung, ihre Eltern wollten sie beschützen. Mir wäre es damals wahnsinnig wichtig gewesen, sie dabei zu haben. Meine Familie, eh denkbar zerbrochen und schwierig zu erleben, eine Familie in der niemand in dieser Zeit einmal den anderen fragte, ernsthaft interessiert, wie es ihr, ihm mit dem Tod des Sohnes, Bruders, Vater erginge, war eben ein gespaltener Trost. Sie war mir wichtig, mein Sonnenschein. Ich hätte eine komplette restliche Familie damals in dieser besonderen Situation gebrauchen können.

Der Tod, ein Sterben – das ist nie gleich. Und so individuell diese Vorgänge sind, so individuell ist deren Erleben. Man kann ein Kind nicht darauf vorbereiten, aber man sollte ein Kind den Tod erleben lassen. Es beim Sterben eines geliebten Menschen nicht ausklammern. Kinder, darauf vertraue ich, tun in einem solchen Moment genau das Richtige. Instinktiv Und sie können dem Menschen beim Gehen viel Kraft und Zuversicht spenden, weil sie – im Vergleich zu den Erwachsenen – sind wie immer und ganz natürlich mit dem Thema umgehen. Wenn Kinder neben dem Sterbenden singen und lachen wollen, lasst sie das tun. Das Sterben kann herrlich lustige Moment enthalten, versagt diese Euch und den Kindern nicht!

Das Schlimmste was man einem Kind antun kann, meiner Erfahrung nach, ist es aus solchen Vorgängen raus zu halten, denn dann stehen sie eines Tages mit dem Tod da und wissen nichts mit ihm anzufangen. Und alle anderen, die es mit seiner Trauer gut auffangen könnten, sind beschäftigt: mit dem Tod (oft leider auch der Angst davor) und der eigenen Trauer. Weswegen ich es für so wichtig erachte, dass wir uns dem Tod schon nähern, selbst wenn er uns noch gar nicht persönlich betrifft. In unser aller Leben wird gestorben werden, manchmal früher, manchmal später.

Die Angst davor, die Verweigerung wird uns weder aufhalten – noch unsere Kinde davor schützen können. Aber Offenheit lässt Kinder fragen stellen und viel sanfter durch das Abschied nehmen geleiten!

1 Kommentare:

AnGarasu hat gesagt…

Ich habe es mit neun Jahren sowohl als auch erlebt. Zuerst lag mein Vater lange im Krankenhaus, kam nochmal für drei Monate nach Hause, in denen er langsam jeden Tag etwas mehr verging, und lag dann noch eine Woche lang im Krankenhaus im Koma, bevor er endlich starb.
Die drei Monate, in denen er Zuhause war, haben mich mehr traumatisiert, als die Zeit, in der er für mich unerreichbar im Krankenhaus lag, da ich seinen körperlichen und vor allem geistigen Verfall miterleben musste. Zum Schluss hat er niemanden mehr erkannt und sogar eine Scheibe eingeschlagen, vor der ich stand und deren Splitter ins Gesicht bekam.
Ich wünschte, ich hätte das nicht miterleben müssen.
Dennoch halte ich es auch für falsch, Kinder vor dem Tod abzuschirmen, denn der gehört zum Leben dazu und sollte respektiert und vor allem akzeptiert werden. In Würde sterben zu dürfen ist dabei das Wichtigste.

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Fröhlich sein, freundlich bleiben und bitte immer gesund wieder kommen!