Kleine Wunder
Manchmal passieren einem Dinge auf die man sehr gerne verzichten würde. Dumm nur ist, das Leben fragt vorher nicht nach, ob einem diese oder jene Erfahrung angenehm wäre. Erzähle ich Euch nichts Neues. Für gewisse Eventualiäten kann man sich aber vorbereiten – und wir sollten das tun!
Gestern mittag fahre ich einige Besorgungen machen in die belebtere Mitte dieser Stadt. Der Weg zurück führt mich durch unsere Berliner Pressemeile. Vor dem Springer Verlagshaus befinden sich zur Zeit einige Baustellen. Bei der letzten Einengung ist der Stau so dicht, dass ich mit dem Rad auch nicht vorbei gekommen wäre an den Autos, so entscheide ich mich die knappen zehn Meter kurz – und sicherlich nicht verkehrskonform – auf dem Fußweg zu bewältigen. Kaum fahre ich an einer Einfahrt auf den Bordstein, rufen mir in meinem Weg stehende Eltern sehr verzweifelt zu, ich möge ihnen um Himmelswillen helfen und die Rettung rufen: „Unser Kind! Unser Kind!”
Während ich das Rad abstelle und nach dem Handy suche, erfahre ich, dass das Kind nicht atmet; der Vater wirbelt es die ganze Zeit panisch hin- und her, um das kleine Mädchen zum Atmen zu bekommen. Die Kleine, ich schätzte sie auf 14 Monate, hängt wie ein nasser Sack in seinem Arm. Kein Krampfanfall, nicht einmal der Versuch krampfhaft zu atmen. Nichts. Beide sind in Panik und laut. Verzweifelt. Beide sind offensichtlich Touristen aus der Schweiz.
Mein Handy, das nach zwei Stürzen letzten Monat nur noch so semioptimal Dienste leisten möchte, verweigert diese natürlich in dieser Situation. Keine drei Meter weiter steht eine Gruppe Menschen rauchend vor einer Tür, denen rufe ich zu, ob sie Telefone haben, was sie bejahen und ich beauftrage direkt eine Frau von ihnen, dass sie den Notarzt rufen soll, ein Baby hätte einen Atemstillstand. Was sie auch sofort tut.
Zwischendurch habe ich mit den Eltern abgeklärt, dass die Kleine nichts gegessen hatte, also nichts verschluckt haben konnte. Das Einzige, was die Mutter beschreibt, dass sie ihr wenigen Minuten zuvor mit einem Feuchttuch den Mund abgewischt habe. Die Kleine habe vor dem Atemstillstand geschlafen.
Währenddessen befehle ich dem Vater das Baby auf den Boden zu legen und dass wir sie reanimieren werden. Befehlen klingt sicherlich hart, aber das war kein Moment für Höflichkeit und das Gute an der Situation war, dass ich wenigstens den Vater tatsächlich in dem Moment aus seiner Panik und Hilflosigkeit holen konnte. Während wir die Kleine dann behandelten (er Beatmung, ich Massage) und was er dann auch wirklich gut und professionell konnte, die Kleine trotzdem immer blauer wurde, schrie die Mutter natürlich weiterhin und herrschte die Frau an, die immer noch niemanden in der Leitung hatte, warum sie nicht Hilfe holt.
Da dämmert es mir und ich frage sie, ob sie wirklich auch die 112 angerufen hätte? Hatte sie nicht – und tatsächlich befand in dem Moment noch eine keine Ahnung habende männliche Stimme im Hintergrund, sie solle die Polizei, 110, rufen; den ich dann sehr laut überschreie, sie solle bloß 112 rufen! Sie legte auf, wählte dann wirklich 112, hatte jetzt zum Glück sofort jemandem am Telefon, der die Meldung aufnahm und uns – mit der jungen Frau als Sprachrohr – in der Behandlung betreute. Wir heben die Kleine hoch mit dem Kopf nach unten und geben ihr einen Klaps. Als nichts passiert, legen wir sie wieder auf den Boden und reanimieren weiter, der Vater untersucht ihren Mund nach Gegenständen. Nichts.
Und dann, ganz langsam, kommt die kleine Maus wieder zu uns zurück und fängt ganz leicht wieder selbstständig an zu atmen. Der Papa nimmt sie wieder in den Arm, wo sie leise und gurgelnd vor sich hin wimmert. Als ich ihn bitte, sie richtig aufrecht zu halten (und sie nicht so an sich zu drücken) damit sie frei atmen kann, fängt sie sogar ordentlich an zu schreien.
Ich wusste nicht, dass ein fremdes Babyweinen solche Glücksgefühle auslösen kann!
Langsam löst sich die Versammlung wieder auf und wir warten, gefühlt natürlich zu lange, auf den Notarzt. Zuerst kommen ca. fünf Minuten nachdem die Kleine wieder selbstständig atmete, zuerst Sanitäter, dann ein Notarzt. Berlin Mitte, Freitag mittag, Wochenendverkehr in einer Gegend, wo viele Straßen dicht sind wegen dem Karneval der Kulturen, sich der Verkehr also dementsprechend im Umfeld staut. Die Eltern und das Baby sind in professionelle Hände übergeben und ich mache mich (erst mal zu Fuß und kurz vor dem Heulen) auf den weiteren Heimweg.
Was haben wir aus diesem fürchterlichen Schrecken gelernt?
• Wenn man den Anruf delegiert (egal ob Polizei oder Feuerwehr/Notarzt) wirklich immer die richtige Rufnummer benennen! Sich darüber sicher sein, welche die richtige Nummer ist: bei Personenschaden ist es IMMER die 112. So geht keine wertvolle Zeit verloren, weil der Anruf geroutet werden muss. Und es ist immer jemand in der Leitstelle sofort am Telefon, der Euch in Euren Erste-Hilfe-Maßnahmen am Telefon professionell anleiten wird.
Das war gestern in der Situation ganz klar mein Fehler, dass ich zu der Frau anfänglich nur Notarzt sagte (weil für mich dann klar ist, dass man die 112 ruft). Anderen ist das offensichtlich nicht klar. (Man denkt in solchen Momenten nicht immer klar und souverän.)
• Bevor man in ein fremdes Land reist, sich über dessen Notfallnummern informieren, denn sie sind nicht in jedem Land gleich.
• Babys und Kleinkinder werden genauso reanimiert, wie alle anderen Personen auch. Natürlich stemmt man – je nach Größe/Alter des Kindes) nicht mit ganzen Hand bzw. auch mit etwas weniger Wucht als bei einem großen, weil erwachsenen Brustkorb. So oder so gilt: eine gebrochene Rippe heilt wieder, ein zu lange nicht mit Sauerstoff versorgtes Hirn und Herz nicht! In dieser Beziehung funktioniert jedes Baby physikalisch wie ein Erwachsener.
Für alle Fälle, nehmt Euch knapp sechs Minuten Eurer Lebenszeit und seht Euch dieses Tutorial auf YouTube an!
• Ich habe das schon oft hier im Blog thematisiert: Macht bitte Erste-Hilfe-Kurse! (Persönlich bin ich für regelmäßige Pflichtkurse von jedem Bürger.)
Wann war denn Euer letzter Kurs? Vor fünf Jahren? Dann frischt ihn bitte auf! Diese Kurse werden von so vielen Institutionen für wenig Geld, oft sogar kostenlos angeboten. Organisiert einen Kurs in Eurer Firma. Ihr müsst doch nur etwas Zeit investieren! Aber was ist etwas Freizeit für ein Menschenleben? Und: Ihr müsst erste Hilfe leisten können, wenn Ihr einen Führerschein habt! Könnt Ihr das noch? Oder fahrt Ihr lieber weiter im Ernstall, weil Ihr Angst habt, Ihr macht etwas falsch? Dann sorgt doch bitte aktiv dafür, diese Angst nicht haben zu müssen!
Mittlerweile haben sich einige Regeln in der ersten Hilfe verändert. Also: informiert Euch bitte, frischt Euer Wissen drum auf. Schafft Euch für Euch eigene Sicherheit und Selbstbewusstsein bei diesem Thema!
Notfälle sind nichts bei dem Passivität oder der Wunsch, dass sie einem hoffentlich nicht begegnen, Euch und Betroffene rettet. Ich habe mir das gestern auch nicht gewünscht. Einen Menschen reanimieren zu müssen, macht keinen Spaß. Ein Baby noch weniger. Aber dieses kleine Mädchen ist zurück gekommen – und so sich das beurteilen ließ höchstwahrscheinlich ohne zerebrale Schäden – weil wir ihr schnell aktiv helfen konnten! Und das konnten wir, weil wir etwas Ahnung hatten und keine Angst vor der Aktion!
Heutzutage muss man ja nicht mal mehr an der Puppe üben. Es gibt viele und gute Tutorials zu den einzelnen Notfallsituationen auf YouTube, die man sich nur regelmäßig angucken muss (wenn man schon mal einen Kurs gemacht hat.) Es ist im Notfall so wichtig, dass eine Person sofort in Aktion tritt, wenn jemand verunfallt oder umfällt.
Ich hoffe, dem kleinen Baby geht es den Umständen entsprechend gut, den Eltern auch. Der Schreck wird noch ganz lange nachwirken. Ich habe mir erlaubt gestern ein „Danke!” an eine mir unbekannte Instanz in den Äther zu schicken.
9 comments:
alles gesagt. gut gemacht.
bestärken möchte ich übrigens alle personen, die delegieren müssen, andere mit einbeziehen, darin: schreit die anderen an. bittet sie nicht, tragt ihnen auf. diskutiert nicht, brüllt: JETZT!. die meisten menschen funktionieren dann automatisch, weil ein lauter befehlston irgendwas im unterbewusstsein dazu bringt, das denken kurzfristig einzustellen und zu tun was gesagt wird. und das ist in einer situation wie der beschriebenen überlebensnotwendig.
auch angehörige, manchmal sogar patienten können/müssen durchaus angeschrien werden, wenn es die situation erfordert. das ist nicht schön, aber manchmal notwendig um einen hysterischen anfall zu stoppen. ist ein mensch nämlich hysterisch/panisch, dann sind von diesem oft keinerlei informationen mehr erhältlich, die aber wiederum notwendig sind um helfen zu können. das ist so ähnlich wie das schrecken bei schluckauf.
erklären, entschuldigen, klarstellen, diskutieren, bemitleiden, trösten, fragen stellen und beantworten kann man später. braucht man oft auch gar nicht. hauptsache, sowas geht gut aus.
Oh, ein Glück, dass das Baby wieder anfing zu atmen.
Viele Leute haben Angst, dass sie die Reanimation nicht durchführen können. Dabei gilt aber: Irgendwas machen ist besser, als gar nichts machen! Durch sofortige Reanimation, selbst wenn es nur laienmäßige Versuche sind - bis der Notarzt ankommt, erhöhen sich die Überlebenschancen beträchtlich. Meiner Meinung nach sollten Kinder schon in der Grundschule Erste-Hilfe-Kurse machen, damit sich diese "Hemmschwelle" verflüchtigt. "Weiter fahren" im Ernstfall ist übrigens eine Straftat: Unterlassene Hilfeleistung. Selbst wer keine Erste Hilfe leisten kann, ist verpflichtet, einen Notarzt zu rufen.
Ich bekam beim Lesen Schnappatmung.
Claudia, weißt Du eigentlich, wie großartig Du bist?
Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte der Zufall Dich dort nicht hingeführt.
@kelef
Hm, da gehe ich eher nicht d'accord. Schreien hilft hier nicht zwingend weiter, sondern schafft im Zweifelsfall nur verstärkte Panik. Dass man über räumliche Distanz hin lauter werden muss, ist klar. Aber am Patienten sollte man das genau eher nicht tun sondern versuchen möglichst normal zu beauftragen. Ich musste gestern teilweise, weil die Eltern eben auch sehr laut waren und die ganze Szenerie an der Straße laut war, sicherlich auch zwei Mal etwas lauter werden. Aber viel wichtiger ist, dass man ruhig bleibt und auch so kommuniziert, damit man allen Beteiligten etwas von der Angst aus der Situation nehmen kann. Es ist immer besser, wenn wenigstens eine Person signalisiert, sie hätte alles besonnen im Griff. (Muss ja nicht stimmen. ;-) )
Viel wichtiger ist, dass man bestimmte Aufgaben wie „ruf an!”, „gehe raus und führe die Sanitäter rein”, „hole dies und das” klar und bestimmt an einzelne Personen delegiert und eben nicht in die Masse ruft. Ich habe mir gestern nachdem fünf Personen auf die Telefonfrage hin mit „ja” antworteten die eine Frau bewusst heraus gesucht. Hat gut funktioniert.
@Angela
Ja, das war sehr großes Glück – und ich mag über einen anderen Ausgang nachdenken.
Reanimation ist das A und O für's Gehirn. Vor allem kann man da nicht viel falsch machen. Bezüglich der ersten Erste-Hilfe-Kurse in der Grundschule stimme ich Dir zu. Gibt es ja auch vereinzelt.
@claudia: natürlich ist schreien nicht die lösung per se, aber ich habe leider bei unfällen schon menschen erlebt, die vor lauter mitleid und nur nicht weiter schrecken so höflich und lieb waren, gleichzeitig den patienten bemitleidend, dass vor lauter mitleid und empathie seitens der umgebung gar nicht feststellbar war, ob und was überhaupt passiert war, geschweige denn irgendeine aufforderung ernst genommen wurde.
leider habe ich auch unfälle erlebt, so richtig böse, da gingen dann gleichzeitig neben den zu versorgenden patienten schuldzuweisungen und handgreiflichkeiten los, in mehreren sprachen, und ja, da musste ich schreien, auf sowas ist man nicht vorbereitet.
verhältnismässig lächerlich auch, als ich mir damals den oberarm und schulter brach: ich lag auf dem boden, sammelte mich innerlich, stellte fest: arm und schulter ganz offensichtlich gebrochen. kreislauf will sich verabschieden - > schock. also blieb ich liegen und orderte einen krankenwagen. natürlich wollte man mir unbedingt helfen und mich aufsetzen, und weil ich entsprechend lag fasste man nach eben dem gebrochenen arm und wollte mir daran hochhelfen. auch da musste ich leider präventiv sehr laut NEIN schreien, als die leut' das nicht begriffen wurde ich dann verbal, ähem, deutlicher. da war der kreislauf wieder da, und in weiterer folge hat mich das vor einer schulter- und oberarm-operation gerettet, die sache heilte letztlich durch ruhestellung und ohne folgeschäden aus. voraussetzung war eben, dass ich wusste was zu tun - und vor allem zu lassen - war.
natürlich muss man selber - als helfer wie als patient - innerlich ruhig bleiben. schrecken kann man sich dann gerne am nächsten tag.
und vernünftigerweise macht man auch nicht nur regelmässig einen erste-hilfe-(auffrischungs)kurs, sondern spielt zwischendurch in gedanken auch situationen durch. und wiederholt im geiste die diversen not-telefonnummern. eltern können ebenfalls schon mit kleinen kindern üben, was im notfall zu tun ist - anlässe finden sich immer, das fängt bei einem aufgeschlagenen knie an.
Was mich interessiert: Wie kann ein Baby so unvermittelt einen Atemstillstand bekommen? SIDS bspw. mit 14 Monaten ist doch eher ungewöhnlich. Vielleicht hatte es doch irgendwas gegessen oder gespuckt (->sich verschluckt?)(Warum hat die Mutter es sonst mit dem Feuchttuch abgewischt?)
Und was genau hat geholfen, das Umdrehen, das Hinlegen... ? Das Beatmen ist ja quasi "nur" symptomatisch, aber lebenserhaltend. Ein Kind bekommt ja nicht von allein Atemstillstände und erholt sich auch nicht von allein. (Selbst SIDS hat ja oft Risikofaktoren, die ihm vorausgehen.)
Wenn man das wüsste, könnte man vielleicht vorbeugen, als Eltern in so eine Situation zu kommen und man könnte zielgerichtet helfen. Das mit dem Umdrehen/ übers Knie legen hat man ja schon gehört, aber in dem Stress wäre ich jetzt auch nicht drauf gekommen. Da muss man automatisch funktionieren.
Gut, dass durch deinen Post ich mir das jetzt besser merken werde.
@Angela:
"Dabei gilt aber: Irgendwas machen ist besser, als gar nichts machen!"
Genau, das sollte viel öfter klar gemacht werden! Selbst das wissen viele nicht. Auch eine Herzdruckmassage ohne Beatmung ist immer noch besser als gar nichts.
@kelef
Wie Du selbst schreibst, jede Situation ist sehr eigen und bedarf anderer Lösungen im Zweifelsfall.
@Anonym_1
Das Alter des Babys ist von mir lediglich geschätzt. Im übrigen entfallen bis zu 6 Prozent der Todesfälle (beim plötzlichen Kindstod) tatsächlich noch auf Kinder im zweiten Lebensjahr.
Ich kann nur wiedergeben, was die Eltern sagten. Die hatten zum Zeitpunkt SIDS als Ursache gar nicht auf dem Schirm. Die Mutter vermutete eine allergische Reaktion auf die Feuchttuchnummer. Eine allergische Reaktion sieht aber anders aus. (Wobei ich schon kritisch finde, dass Eltern mit Feuchttüchern von Kindern den Mund abwischen. Die sind nun mal mit purer Chemie getränkt.)
Was genau geholfen hat - ich weiß es nicht. Es war fürchterlich zu merken, dass so ein Zwerg auf Zurufe, Bewegung etc. so gar nicht reagieren konnte. ,-(
@Ramona_LE
Ich hoffe doch sehr, dass andere Passanten auch geholfen hätten. Irgendwie. ;-)
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Fröhlich sein, freundlich bleiben und bitte immer gesund wieder kommen!
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