2006-08-22

Abschied in Etappen

37 Jahre hatte sie in der Wohnung gelebt, ich davon 14 mit ihr. Dort bin ich groß geworden. Die nicht so schöne Zeit nach der Scheidung meiner Eltern, die aber Ruhe in unser Leben brachte. Der totale Neuanfang. Es war eine schöne Kindheit inmitten der damaligen toten Zone in Berlin. Eine aufregende Kindheit. Fünf Minuten vom Tiergarten entfernt. Sieben Minuten zum Potsdamer Platz, der damals eine reine Schutthalde war. Ein einziges Haus aus der Vorkriegszeit stand dort noch, das Haus Huth. Dort hat meine Schulfreundin mit ihrer Familie auf dem Dachgeschoss gewohnt. Wir haben Soldatenhelme bei uns noch im Keller gefunden, in den Bunkern des Reichsheereskomando gespielt, in den Ruinen der alten Botschaften nach Schätzen gestöbert bis sie vernagelt wurden. Nee, ich bin nicht sooo alt. Ich rede von einer Zeit nach 1971.

In der Wohnung haben wir gerne gelebt. Eine große Wohnung. Drei Zimmer, 90 Quadratmeter. 4,50 m hohe Räume. Alleine der Flur hat zehn Meter Länge. Wir haben dort gefeiert, gelacht, gekocht, Musik gemacht, gestritten, gelitten – gelebt eben. In der Wohnung habe ich noch meinen Vater vor Augen, wie er an einem meiner Geburtstage mit meinem neuen schwarzen Kaninchen Klopfer in der Tür steht. Meine Oma, die 64jährig – auch auf einer meiner Geburtstagsfeiern – uns Mädels zeigte, wie man ein richtiges Rad schlägt. Ich sehe meinen Bruder, wie wir uns gestritten haben bis auf das Messer. Mamas Freunde, die Tränen, die sie wegen ihnen weinte. Ihre Freunde, meine Freunde, unsere Freunde. Ich habe dort gelernt, gelesen, geträumt. Meinen ersten Liebeskummer gehabt, meinen ersten Freund mit gebracht. Meine allererste Katze, die dort ihre Babies bekam und dort starb. Habe meine Mum erlebt wie sie am Telefon zusammen brach, als ihr mitgeteilt wurde, dass ihre Mutter tot sei. Wir haben dort Weihnachten gefeiert, oft mit vielen Bekannten, die in Berlin keine Familie hatten – immer bunt und anders. Die vielen Geburtstagsfeiern, ich immer 16 Tage nach ihrem, vorletztes Jahr noch hat sie mir in der Wohnung eine Überraschungsfeier ausgerichtet.

Gestern habe ich die Unterlagen zurück gebracht. Bin durch die Räume gegangen, habe Abschied genommen. Ihre Sachen ein letztes Mal gesehen, angefasst und zurück gelassen. Morgen gehe ich zum Amtsgericht. Den Rest wird der Nachlassverwalter machen müssen. Leider. Das tut weh. Alles tut weh. Der Abschied von ihr. Der Abschied von meinem alten Kinderzimmer, jetzt ihrem Schlafzimmer. Der Abschied von dem Raum in dem sie gestorben ist. Der Abschied von meiner Kindheit. Keine leichte oder unberührte Kindheit, aber trotzdem sehr schönen Kindheit. Sie hatte alles für mich getan, damit es mir gut ging. Der Abschied von unserer gemeinsamen Vergangenheit.

Verdammt.

2 Kommentare:

daniela hat gesagt…

Ich wünschte manchmal, ich hätte auch so einen Ort, an den ich gehen kann, der sich nach Kindheit anfühlt.
Aber wir sind einfach viel zu oft umgezogen.
So habe ich an zahlreichen Orten in Deutschland und Indien kleine Kindheits-und Jugenderinnerungen versteckt, so wie Voldemort Teile seiner Seele.
Aber jeder Besuch da bringt auch die "was wäre wenn wir dageblieben wären?"-Fragen auf.
Ist nichts halbes und nichts ganzes.

Sei dankbar, dass es einen Ort gibt, der so stark mit positivem Gefühl aufgeladen ist.

creezy hat gesagt…

Ja so aus der anderen Perspektive gesehen, sollte ich wohl dankbar sein. Obwohl – nun gibt es ihn ja auch nicht mehr wirklich für mich …

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