2006-07-20

Alles beim Alten …

Samstag war ich mal wieder bei Lucie Leydicke, nach langer, langer Zeit. Sehr grob kann ich von beinahe zwei Jahrzehnten Leydicke-Abstinenz sprechen. Lucie Leydicke ist eine seit 1877 existierende Wein- und Likördestille mit Ausschankgenehmigung – eine Berliner Institution – in der unsere Clique häufig feine Kollektivabstürze hatte, immer im vollen Bewußtsein und immer lustig.

Bei vollem Bewußtsein ist natürlich eine Behauptung, deren naiver Anteil nicht mehr zu überbieten ist. Die Abende bei Leydickes liefen immer gleich ab: Hingehen, rechtzeitig am Abend, um sich noch einen Tisch zu sichern in dem nicht so übermässig großen Etablissement. Dann teilte sich die Crew über den Abend verteilt zwei bis drei, auch mal vier Flaschen Obstwein. Meistens rot und nie bei einer Sorte bleibend, warum auch bei dem reichhaltigen Fruchtangebot? War einmal ein Unkundiger so tapfer, sich bei Leydicke ein Glas Mineralwasser zu bestellen oder ganz besonders peinlich: ein Bier – dann ging das nie ohne bissige Kommentare seitens des Thresenhauptdompteurs ab. In nur zwanzig Sekunden wußte der ganze Laden, wo die Pfeife des Abends saß. Selber schuld.

Nun geht es einem nach einem Glas (bei Leydicke besondere bauchige Wassergläser) Kirschwein generell nicht schlecht. Das ist ein lecker Weinchen, süffig, die Gläser wirken auch nicht allzu groß. Das trinkt man weg und fühlt sich ganz locker, vor allem ist man überhaupt nicht betrunken. Und so ein Kirschwein ist ja auch gesund. Also möchte man ein zweites Glas trinken, der Abend ist noch jung – und da spätestens jetzt die Flasche nicht mehr für alle reicht, wird die zweite Flasche geordert.

Wer nun eine kleine Blase nicht sein eigen nennen kann und noch nicht die Örtlichkeiten aufsuchen möchte, der wird jetzt auch nicht bemerken können, wie schwer es plötzlich ist nach zwei Gläsern die direkte Fluchtlinie zum WC zu bewältigen. Aufrecht gehen geht noch problemlos – dümmlich grinsend, aber mit Haltung zwischen den Beinen durchzusteigen, während die Gesichter der anderen Gäste schon mittelstark mit dem Gauß'schen Weichzeichner bearbeitet zu sein scheinen, das erfordert Konzentration. Ist man auf der Toilette angelangt, könnte man kurz in sich gehen und sich fragen: 'sollte ich jetzt erst einmal ein Wässerchen zu mir nehmen?' Das ist dann allerdings auch die letzte Chance noch ein bisschen Einfluss auf den späteren Verlauf des Abends zu nehmen. Die allerletzte.

Anderenfalls wird weiter getrunken und man wird gnadenlos abstürzen. Das ist aber egal, denn solange bis man auf der Straße steht, ist alles bestens. Man erzählt sich hochintelligente Geschichten, tanzt, sinniert über die 8,5 %, die in einer Ecke der gerade frisch auf den Tisch gekommenen Weinflasche steht, feiert, plötzlich kennen sich auch die Gäste, die sich vorher noch nie gesehen haben, man mag sich sogar. Der Thresenhauptdompteur macht Stimmung – und um Punkt ein Uhr, wenn Schluss ist (Lucie war damals das einzige Berliner Etablissement mit personifizierter Speerstunde), und ohne Nachsehen der Laden leer gefegt wird, steht man auf der Straße. Die frische Luft tut dem Gehirn, das aktiv unter Obstweinbeschuss steht, genau das an, was Gehirne in dem Moment nicht gebrauchen können. Der Rest ist Geschichte. Über den späteren Morgen danach reden wir hier nicht.

Vor dem Rauswurf serviert der Wirt 'ne Stulle auf's Haus. Damit schafft man's wenigstens zur U-Bahn.

Samstag war ich also wieder bei Leydicke. Alles ist beim Alten: die uralte Holzeinrichtung, die nikotinverseuchten Wände. Riesige Wandladenschränke in denen sich Weinflaschen neben Likörflaschen präsentieren – mit Etiketten, deren Gestaltung sich seit 1877 nicht verändert zu haben scheint. An den Wänden hängen immer noch die alten Filmplakate von James Dean oder 'zu stolz zum Weglaufen'-Cowboy Gary Cooper oder das Originalplakat von 'I Walk the Line'. Frischer hingegen das Billy Idol-Plakat. Der Thresenhauptdompteur hat sich kaum verändert in den Jahren, ist vielleicht noch ein bisschen selbstbewußter geworden. Es wird immer noch sofort kassiert. Samstag wurden Tröten verteilt, Feuerwerk im Laden gezündet, ein Straßenzauberer brachte die uralten Kalauer über die man bei steigendem Weingehalt immer noch lachen kann. Die Jazzband war eine feine Sache. Und zwischendurch ertönte die gute alte Rockeminenz, die mit Bill anfängt und mit Haley endet. Das Waschbecken in der Toilette – ebenso wie die Türen – unverändert braun. Nur ich bin klüger geworden: zwei Gläser Weißwein – halbtrocken, das hat für leichten Schmerz im Kopf am nächsten Tag auch gereicht. Beim Anblick der Flaschen überkam mich irgendwann eine große Lust auf Eierlikör …

Habt Ihr jemals nachts bei 28 Grad Außentemperatur in einer Destille gesessen und wolltet Eierlikör trinken? Genau. Sehet dieses einfache Zeichen und verstehet die Warnung! Ich warne, ich warne vor Lucie Leydicke! (Komme aber selbstverständlich gerne sofort wieder mit, wenn Ihr dort einmal hinwollt.)

Fotos und einige Leydicke-Hintergründe.

7 comments:

F hat gesagt…

Warum sollte sich seit 1877 auch etwas ändern? Sehen Sie! Eben.

Anonym hat gesagt…

Stelle gerade fest, das ich mal wieder nach Berlin muß.

Anonym hat gesagt…

Gut, Du hast es angeboten. Denn wenn ich mal wieder fit bin (Du hast also noch Mooonate Zeit), setz'ick mir innen I-Zeh-Eeh und bin inner juten Stunde da. In Bealin nämlich.

Und dann möchte ich auch Eierlikör.

creezy hat gesagt…

@f
Stimmt. Ich habe mich ja seit 1877 auch nicht verändert! Danke für den Hinweis!

@all
Genau, kommt mal alle. Dann machen wir einen netten Blogger-Absturz bei Lucie nicht unter 5 Flaschen Holunder-, Himbeere-, Kirsch-, Brombeere und Johannisbeere. Und zum Schluß noch einen feinen Himbeergeist. Und ganz zum Schluß noch 'nen Eierlikör.

Mach' hinne mit dem fit werden, Narana! ;-)

Das kommt also dabei raus, wenn ich Warnungen ausspreche … ts ts …

Anonym hat gesagt…

Durch die Warnung wirds erst richtig interessant. Ausserdem hab ich noch nie Kirschwein getrunken. Kirschbier, klar, in Belgien frönt man bekanntlich jeder Perversion der Braukunst, aber Kirschwein? Nö, der fehlt noch.

Anonym hat gesagt…

Man man man, die Alkoholischen Anonymiker sind ein Scheiß gegen euch. *g* Wann solls losgehen? Alzzeit bereit...

lg aus der schönsten Stadt der Welt: BERLIN!

Anonym hat gesagt…

Herrlich! Da hatten wir 1975 auf Klassenfahrt den Megaabsturz. Und der Lehrer wurde - später hereinkommend - von dem Tresenhauptdompteur angefahren:" Junger mann, können Sie nicht grüssen!?"
Wunderbar.

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