Was für eine Woche. Kaum den Italienischkurs und eigene gesundheitliche Probleme in der vergangenen Woche verdaut, Sonntag der Anruf von der weltbesten Freundin (in Aachen weilend, um dort die Asche vom Onkel des weltbesten Freundes zu beerdigen und den anderen krebskranken Onkel zu besuchen), ich solle die Mutter zusammen mit dem Enkel einsammeln und ins Krankenhaus. Der Vater, der dort seit einigen Wochen im mehr oder wenigen wieder kritischen Zustand lag, wurde erneut auf die Intensivstation verlegt, nun neu: Nierenversagen.
Ein Déjà vu vom Dezember letzten Jahres, als der Vater noch einmal sehr gnädig eine Chance, von wem auch immer, und wie durch ein Wunder (hartes Arbeiten von Medizinern und Pflegepersonal) erhalten hatte, die er – das muss man so hart sagen – nicht genutzt hatte. Der eh schon im innern nicht so schöne, noch mental gereifte Mensch, der es im Vorfeld schon geschafft hatte vom Hausarzt der Praxis verwiesen zu werden, da er zu offensiv ablehnte an seinem Gesundungsprozess mitzuarbeiten – und deutlich unterhalb der üblichen Zeit aus der Reha entlassen wurde „Wenn Sie nicht mitarbeiten, können wir hier nichts für sie tun.” mutierte nach Sauerstoffunterversorgung, damals mehreren Wochen im künstlichen Koma und zwischenzeitlichem Schlaganfall endgültig zum Patiententerroristen.
Die Vorhersage – und dazu musste man keine medizinisch ausgebildete Fachkraft sein – dass er, wenn er seine Lebenseinstellung nicht um mindestens 180 Grad dreht, in spätestens einem halben Jahr wieder im gleichen Zustand sein würde wie in seiner letzten Krise, war nichts, was etwa als sonderlich esoterisches Glaskugelgedankgut gelten sollte.
So war dem auch. Aufnahme im Krankenhaus ins Schlaflabor, weil er nicht gut schlafen konnte. Wobei ich bis heute nicht verstanden habe, was ein Mensch, dem die Lunge unter der Vorerkrankung aber eben auch Adipositas im körpereigenen Wasser absäuft, in einem Schlaflabor zu suchen hatte. Dort stellte man also fest, dass seine Lunge voller Wasser war, der Zustand wieder extrem kritisch, verlegte ihn auf die Intensivstation und ins künstliche Koma und prognostizierte ihm ein künftiges Leben als Pflegepatient an der Beatmungsmaschine.
Alle Versuche ihn ins aktive Bewusstsein zurück zu holen scheiterten, weil er sich mit der Beatmung nicht abfinden wollte. Natürlich ist es eher Panik fördernd aufzuwachen und fremdbestimmt beatmet zu werden – nur muss man da leider durch. Und wenn man sich diesem Prozess verweigert, hat man eher keine Chance auf … irgendwas. Von Genesung konnte man in diesem Fall eh nicht mehr sprechen.
Einige Tage auf einer anderen Station in Quarantäne. Nun Keimbefall – angeblich der einer anderen Patientin. Aber schlussendlich lag der Mann die vergangenen Jahre zu oft selbst im Krankenhaus, um nicht über eigene resistente Keime am Mann zu verfügen. Zwischenzeitlich wurde ein externer Betreuer beauftragt. Die einzige Vollmacht, die existierte, war eine Betreuungsvollmacht der Ehefrau, die aber aufgrund ihrer psychischen Erkrankung zu rationalen Entscheidungen eher nicht mit solchen Entscheidungen beauftragt werden sollte. Die Tochter wollte aufgrund des sehr gespaltenen Verhältnisses zum Vater künftige Entscheidungen über sein Leben nicht tragen. Der Dissens lag auf der Hand: der Patient hätte unbedingt leben wollen, das war bekannt. Sein künftiges Leben wäre aber ein Siechtum gewesen und somit ein Albtraum – und zwar für alle Beteiligten.
Das Wochenende stand an mit dem Beerdigungstermin des Onkels. Die Diskussion, ob sie nun nach Aachen fahren sollte oder auch nicht? Das Hinfahren ein emotionaler Herzenswunsch. Schlussendlich hätte der Vater jetzt auch noch Monate so liegen können, wie es aber auch jederzeit zur Krise kommen hätte können. Insofern sagte ich zu im Notfall die Begleitung und aktive Betreuung der Mutter zu übernehmen. Und natürlich legte sich der Vater ganz unbewusst ins Zeug, der Tochter auch diese Reise möglichst schwer zu machen. Denn, wie schon geschrieben, Sonntag wurde er zurück auf die Intensivstation verlegt mit dem Nierenversagen.
An dieser Stelle: sollte jemals jemand meiner Mitlesenden in die Versuchung zu kommen in Berlin im Neukölner Krankenhaus auf die Intensivstation 2 zu kommen: flieht! Ein einziger Schlachthaufen. Uninformierte Ärzte, dass man immer wieder Zweifel haben musste, sie würden jedes Mal von einem anderen Patienten sprechen. Plumpe Versuche Unterlagen nicht rausgeben zu wollen. Angehörige, die wegen des kritischen Zustandes in die Klinik berufen werden, lässt man über eine Stunde im Vorraum warten ohne irgendeine Nachricht. (Schlussendlich war der Patient in einer Untersuchung und alleine diese Information hätte viel Stress bei der Mutter, die hochgradige Angstpatientin ist, vermieden.) Sehr unangenehme Erfahrung.
Der Mann war verkeimt, das war bekannt. Der Magen-Darm-Trakt wohl schon seit Tagen befallen, was man bis Sonntag den Angehörigen allerdings nicht mitgeteilt hatte. Und was dafür sprach, dass er nämlich der Keimträger war, der zur Isolierung führte – was mir dann sehr leid tut für die Patientin, die vorher mit ihm zusammen gelegen hatte. Was aber auch ganz deutlich macht, wie immer noch so schlecht in Deutschen Krankenhäusern mit MRSA umgegangen wird. Nun konnten die Nieren nicht mehr, eine Herzkatheteruntersuchung ergab speziellen Bakterienbefall auf einer Herzklappe, die es nun auszutauschen galt, vorher hätte man den Mann nicht an die notwendige Dialyse hängen können, sonst würde der Keim im gesamten Körper verteilt.
Wir hatten hier also einen aktiven Sterbeprozess. Das beginnende multiple Organversagen, einhergehend mit einer Sepsis bei einer sehr schlechten Zukunftsprognose. In sehr vielen anderen Ländern, wo die gesundheitliche Versorgung über ganz andere Finanzierungsmodelle definiert wird – oder es die durchaus hochfähige medizinische Versorgung gar nicht gibt – hätte man den Mann jetzt sterben lassen. Insbesondere hätte er eine Patientenverfügung verfasst und unterzeichnet.
Schwierig, denn immerhin hatten wir schon im Dezember gedacht, er würde die Krise nicht überleben, hatten die Ärzte ihm damals keine 24 Stunden mehr gegeben. Wer will da entscheiden?
So aber – und eben in dem Bewusstsein, der Patient hätte leben wollen – wurde er in das Herzzentrum vom Virchow Klinikum von Neuköln in den Wedding verlegt und noch in der Nacht operiert. Unter dieser OP hatte er als erstes einen 30minütigen Herzstillstand. Die Entscheidung die OP dennoch durchzuführen, traf der Operateur, weil klar war: einen zweiten Versuch würde es nicht geben. Es wurde also noch einmal sehr viel Energie von Ärzten und Pflegekräften und sehr viel Geld in diesen Patienten versenkt. Montag vormittag – die Tochter hielt die ganze Zeit telefonischen Kontakt – die Nachricht, wir sollten schnellstmöglich kommen.
Also wieder Enkel (aus Kladow) die Mutter (aus Köpenick) eingesammelt. Wir, Enkel und ich, die wir nicht von Medikamenten im Denken ruhig gestellt waren wie die Mama, mit dem Wissen, was uns dort erwarten würde und in der Sorge, es nicht rechtzeitig zu schaffen. Unter dem Aspekt wirkte der kurze Aufenthalt in der Aufnahme, wo die Mutter allerlei komische Fragen hinsichtlich des Datenschutzes, künftiger Rehaorganisationen und somit Entbindung von Schweigepflichten noch zu unterzeichnen hatte, äußerst surreal auf mich. Unterschriften für eine Zukunft, die es nie geben würde.
Dann im Vorraum zur Intensivstation sofortige Benachrichtigung, dass gleich jemand zu uns kommen würde – und ganz anders als im Neukölner Krankenhaus, konnte man sich hier wenigstens in der Gefühlsnot an einem Wasser- oder Kaffeebecher emotional festhalten. Der Chefarzt erklärte uns dann in einem ruhigen Zimmer – vor allem der Mutter (deren Neigung zum möglichen Suizid in den Akten immer vermerkt wurde) sehr behutsam den Zustand des Ehemannes, der klipp und klar „aktiver Sterbeprozess” lautete mit einer Prognose, dass er den Abend nicht erleben würde.
Schlussendlich hatte man den Mann solange an den Apparaten gehalten bis wir kamen. Seine Chance am Vormittag seine Werte zu verbessern, konnte der Körper nicht nutzen. So lag der Mann mit offenem Brustkorb (natürlich abgedeckt), zwecks etwaig notwendiger direkter Reanimation am Herzen, durch von den Maschinen suggerierten stabilen Werten vor uns. Man versicherte uns, dass er durch die Medikamente tief schlafen würde und keinerlei Schmerzen haben würden – da hier mit der möglichen Höchstdosis versorgt.
Was für mich – als vergleichsweise neutrale Begleitperson, ich hielt an dem Mann emotional deutlich weniger Aktien, als ich sie z. B. bei der Mama meiner Freundin halten würde – mitgenommen hatte, war, dass eben jene Mutter bis zu diesem Moment deutlich ausgeblendet hatte, dass ihr Mann dieses Mal wirklich sterben würde. Sie glaubte bis zu diesem Montag an seine Wiedergenesung durch die Operation und auf ihre Frage in den Raum gestellt „Was das denn alles heißen würde?” ihr – alle professionelle Behutsamkeit des Arztes zunichte machen zu müssen – klar sagen zu müssen „N. wird jetzt sterben, wir müssen uns nun verabschieden”, das war und ist auch im Nachgang für mich eine Hausnummer, die ich noch zu verarbeiten habe. Es ist ein Unterschied, ob man diesen Sachverhalt für sich im Stillen realisiert oder ihn nach außen kommunizieren muss. An die Person, die maximal darunter leiden wird.
N. hatte ein ruhiges Zimmer ganz am Ende der Station, wo wir in aller Ruhe Abschied nehmen konnten. Wir wurden sehr umsorgt von den Ärzten und dem Pflegepersonal, wurden ständig erinnert, dass man uns für alle Fragen oder Wünsche bereit stünde. Ich durfte im Vorraum telefonieren. Es war ein völlig anderes Erleben von Intensivstation als im Krankenhaus Neuköln und ich bin sehr froh, für den Mann und seine Frau und Enkel, dass der Mann im Herzzentrum gehen durfte.
Die telefonische Rückversicherung der sich auf der Autobahn befindlichen Tochter, dass wir nicht auf sie warten sollten, ihn nicht länger leiden lassen sollte. Telefonate, die der Mensch nicht braucht. Mit Kommunikation dieser Nachricht an den Arzt, einer letzten Blutuntersuchung mit trostlosem Resultat und seit unserem Eintreffen stetig sinkenden Pulsschlag, war die Stimmung gesetzt. Ich animierte seine Frau ihm noch schöne Worte mit auf den Weg zu geben oder mit ihm von den schönen gemeinsamen Momenten zu sprechen, einzig zur Sicherheit, falls er im Innern jenseits der Medikamente doch etwas mitbekommen sollte, dass ihn dabei schöne Erinnerungen begleiten sollten. Seine Tochter arbeitet in der Hospizbegleitung, ich habe viel von ihr gelernt über das Gehen und ich wollte es in ihrem Sinne für ihn richtig machen. (Denn wenn sie auch mit ihrem Vater seit längerem abgeschlossen hatte, ist sie ein liebevoller und fürsorgender Mensch, der solche Dinge korrekt händeln würde und dabei über jeden Schatten springen würde.)
Irgendwann das Gespräch mit der Ärztin der Nachmittagsschicht, die sehr deutlich sagte, dass man bei dem jetzigen Pulsschlag üblicherweise reanimieren würde aber sie das in seinem Fall nicht mehr tun werden. Sie legte indirekt direkt das Abschalten der Geräte nahe, im Grunde lag vor uns ein toter Mann. So war schon die Aussage vom Chefarzt eine Stunde zuvor, als ich nochmals auf den Betreuer hinwies, dass diese Entscheidung über den Zeitpunkt alleine bei den Ärzten liegen würde.
Also musste ich der Mutter sagen, dass wir nun Abschied nehmen müssten und in den nächsten 15 Minuten die Maschinen abgestellt würden. Die Frage der Ärztin, ob wir dabei bleiben wollten, beantwortete die Mutter mit einem „Nein.”, ich mit meinem „Ja.” (das war mein Job hinsichtlich meiner Aufgabe als Freundin, sie hätte ihn nicht alleine sterben lassen) und der Enkel mit „Ja. Aber er würde bei seiner Oma bleiben.” Daraufhin schickten wir die Ärztin wieder raus und sprachen mit der Mutter (Angstpatientin!), wovor sie denn jetzt Angst hätte? Der Enkel und ich erklärten ihr, dass es auch für sie wichtig wäre (später), wenn sie ihren Mann jetzt begleiten würde und dass sie keine Sorgen haben müsse, dass er irgendetwas mitbekommen würde oder in irgendeiner Weise reagieren würde. Sie ließ sich überzeugen. Und die Ärztin freute sich sichtlich, dass wir dabei bleiben wollten, weil das wohl doch nicht so viele Angehörige tun würden.
Dann gab es noch einen surrealen Moment als ich sie fragte, ob sie ihm nicht nochmal (im lebendigen Zustand) zum Abschied einen Kuss geben wollte, was sie (man muss einfach verstehen, dass sie unter ihren Medikamenten sehr fremdgesteuert ist und eigene Bedürfnisse kaum angehen kann, noch kommunizieren kann und man deswegen ein bisschen für sie mitdenken muss und ihr Handeln ständig anleiten muss) dann auch versuchte. Das funktionierte nicht, sie kam nicht an ihn heran, weil sie einfach zu klein und – so deutlich muss man es sagen zu dick – ist, ich bot ihr an, dass uns da der Pfleger sicherlich behilflich sein konnte. Aber so wichtig war es ihr nicht, nun, der Versuch zählt.
Und so hielt der Enkel sie, während sie die Hand ihres Mannes hielt und ich streichelte seine andere Hand. Währenddessen stellte die Ärztin die Maschinen aus, am Anfang noch erklärend bis sie bemerkte, dass von ihren Ausführungen eh nichts bei der Ehefrau ankam und ging hinaus und wir konnten bleiben in der dann doch (für mich sehr) angenehmen Stille ohne das den kritischen Zustand des Patienten tonal begleitende Gepiepe.
Der Vater regte sich natürlich nicht – man ließ im Sterben das Narkotikum und Schmerzmittel hochdosiert weiter laufen –, wurde recht schnell gelb. Zehn Minuten später stand der Seelsorger im Zimmer, der die Mutter sehr liebevoll versuchte aufzufangen, was sie aber störrisch ablehnte, denn Seelsorger ist irgendwas mit Kirche und das bräuchte sie nicht. Es gab Angebote an uns, den Vater später noch einmal im Ruheraum jenseits der Maschinen verabschieden zu wollen, was sie ablehnte (und was, wie ich wusste, die Tochter auch nicht mehr brauchen würde, denn sie hatte sich auf ihre Weise verabschiedet.)
Dann machten wir uns auf den Weg. Sie stürmte mit dem Enkel raus, während ich mich noch einmal bei der Ärztin und dem Pfleger bedankte, die „Zum Abschied-Informationsmappe” in die Hände gedrückt bekam und wir fuhren zu mir uns mit Kaffee und Kuchen zu betäuben bevor wir nach Kladow fuhren, um dort die Tochter am Abend zu empfangen. Die Oma saß auf dem Sofa (thank god to those cute little pills!), der Enkel, dem ich allen Respekt zolle, dass er das mitgemacht hatte und bei seiner Oma und Opa geblieben ist, das macht auch nicht jeder junge Mensch mit) kuschelte mit dem Kater und bereitete später das Abendessen, ich therapierte mich im großen Garten mit dem Gießen der Blumen und kescherte die Insekten bzw. die Kiefernnadeln aus dem Pool.
Langes Blogpost, kurzes Fazit: bleibt bei Euren Angehörigen, wenn sie so ruhig gestellt und im Grunde planbar auf der Intensivstation gehen werden. Es tut wirklich nicht weh, es passiert nichts, man muss davor keine Angst haben. Aber es ist das Letzte, das man dem Sterbenden mitgeben kann: dass er/sie es nicht alleine gehen muss. Die Mutter ist jetzt im Nachgang froh, dass sie bei ihrem N. geblieben ist. Und das ist, was dann bleibt in der Trauer. Ein gutes Gefühl.
Schonungslos und empathisch. Danke für deinen Bericht.
AntwortenLöschenDanke für diesen ehrlichen und dadurch hilfreichen Post.
AntwortenLöschenDankeschön für die Offenheit und Ehrlichkeit
AntwortenLöschenDanke, dass du mit diesem Bericht allen, die sowas noch nicht erlebt haben, dabei hilfst, sich darauf vorzubereiten!
AntwortenLöschenPersönlich wünsche ich mir die geistige Kraft, dieses gesamte letztlich nutzlose und teure Arbeiten an der Verlängerung eines aussichtslosen Zustands zu vermeiden. Das Sterben ist unvermeidlich, aber die heutige Hightechmedizin vermittelt die Illusion, man könne dem Tod durch immer neue Interventionen doch entgehen - selbst wenn überdeutlich ist, dass der Körper schon auf 1001 Art dabei ist, sich zu verabschieden.