Als ich gestern Abend von der Firma mit dem Rad nach Hause fahren will, steht vorne an der Brücke, die vergleichsweise sehr stark mit Autos befahren ist, ein kleines Mädchen mit einem Schatz voller Steine. Mich stört an ihrem Bild, dass sie mir zu klein wirkt, um ohne Eltern unterwegs zu sein. Sie ist klein und sehr zierlich und kann zwischen vier und sechs Jahren alt sein, sie wirkt auf mich aber eher näher vier.
Vielleicht erst vierjährige Mädchen mag ich alleine an einer solchen Stelle nicht sehen und also spreche ich sie an, was sie denn dort so alleine machen würde? Sie antwortet mir in einer lustigen Sprache, die ich nicht verstehe. Obwohl ich verstehe, als ich ihr Cochlea-Implantat sehe und auf der anderen Seite ein ebenfalls schickes rotes Hörgerät.
Wir unterhalten uns auf unsere Weise, sie sieht aus, wie ein kleiner Mensch nach einem harten Arbeitstag als Kind aussieht: verwuselte Haare, verklebtes Gesicht und schmutzige Kleidung. Aber die bekommt man gratis dazu, wenn man auf steinige Schatzsuche geht. Und ich kann mich immer noch nicht entscheiden, soll ich dieser kleinen Person trauen, dass sie alleine nach Hause kommt oder muss ich vermuten, sie hat vielleicht noch gar nicht bemerkt, dass sie mutterseelenallein (warum heißt es eigentlich immer nur mutterseelen…?) unterwegs ist?
Sie tut nach einer Weile das, was ihr offensichtlich gut beigebracht wurde. Sie entscheidet, dass ich eine Fremde bin und sie sich eigentlich nicht von mir ansprechen lassen soll. Das macht es schwierig, denn ich möchte ihr keine Angst machen, ich möchte sie aber auch nicht so alleine unterwegs wissen. Sie rennt weg.
Sie ist schnell. Meine Befürchtung, sie könnte jetzt wegen mir auf die Straße rennen trotz roter Ampel, trifft es leider sehr und als ich sehr laut ärgerlich brülle, bleibt sie vor Schreck stehen. Ich zeige auf die rote Ampel und das versteht sie und das ist der Moment, in dem sie offensichtlich einsieht, dass ich ihr nichts Böses will. Als das Licht auf grün umspringt, rennt sie weiter. Sie ist ein kleiner, agiler, sehr schneller Floh. Und als ich ihr sage, wir sollten zu ihrer Mama, erzählt sie und macht sie Gesten, die sie in der Gebärdensprache schon kann und ich leider nicht gut verstehen kann. An der nächsten Ampel zeigen wir uns, dass man erst einmal mit den Augen gucken muss.
Sie rennt und rennt nach Hause, sie hat mittlerweile Spaß daran und wartet gelegentlich auf mich, damit ich aufholen kann. Mir fällt es schwer mit dem Rad nachzukommen. Wir sind ca. 1,5 Kilometer von unserem ersten Treffpunkt entfernt. (Die Strecke, die wir zurücklegen, ist selbst für eine Sechsjährige nicht ohne.) Da geht sie in ein Haus hinein, springt die Treppen hoch und klopft an die Tür. Ich gehe hinterher. Die Tür öffnet ihre Mutter mit dem Handy an dem Ohr und sie zeigt mir stolz ihre Mama. Ich erzähle ihr, wo ich ihre Tochter gefunden habe und sie meint nur, ohne das Handy vom Oh zu nehmen: „Oh!” Und: „Danke!“ Das kleine Mädchen und ich, wir winken uns zum Abschied.
Ich glaube, ich möchte die Gebärdensprache lernen.
Und morgen lege ich ihr ein Stofftier vor die Tür. Mit einer Karte. „Für das kleine Mädchen mit den sehr schicken Hörgeräten, das sich so mutig die Welt erkämpft.”
Wow..was für eine schöne Geschichte. Vielmehr was für ein schönes Erlebnis. Danke fürs Teilen! Ich möchte auch die Gebärdensprache lernen, schon lange, bin aber nie dazu gekommen.
AntwortenLöschenHerzliche Grüße!
Ich finde die Geschichte nicht so schön - eher traurig. Schade, dass das Mädchen so auf sich allein gestellt ist. Und ein ganz kleiner Hinweis noch: Die Implantate heißen Cochlea(r)-Implantate.
AntwortenLöschenEine schöne und traurige Geschichte. Weiss garnicht was grad überwiegt. Tolles Mädchen, so mutig, und tolle Creezy die sich getraut hat hinzugucken und einzugreifen. Und armes Mädchen? - Nicht wegen der CIs und Hörgeräte, sondern wegen der Reaktion (oder Nicht-Reaktion) der Mutter. Oder tolle Mutter die weiss was sie für ein selbstständiges Kind hat?
AntwortenLöschenIch bin gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte!
Sehr berührende Geschichte, beim Lesen stellte sich bei mir jedoch ein beklemmendes Gefühl ein.
AntwortenLöschenDas Verhalten der Mutter macht mich wütend. Ist es Leichtsinn, ist es Verantwortungslosigkeit?
Wie kann eine Mutter ihr kleines Mädchen einfach unkontrolliert ihres Weges ziehen lassen? Für mich erst einmal unerheblich, ob die Kleine hörend ist oder nicht.
Eine berührende, anrührend schöne Geschichte!
AntwortenLöschen@Anonym
AntwortenLöschenDanke, selbstverständlich heißt es Cochlea. Das war vermutlich mal wieder Nishia auf der Tastatur. ,-(
@all
Ich glaube nicht, dass man mit der Mutter so ins Gericht gehen muss. Ich weiß ja nun nicht, wie alt das Mädchen wirklich ist. Ab einem bestimmten Alter muss man KInder auch ziehen lassen und alleine nach draußen gehen lassen. Wie sonst sollen sie Selbstständigkeit lernen? Ich bezweifle, dass die Mutter dem Kind erlaubt hat „so weit zu ziehen”. Und ich erinnere mich, dass ich als KInd auch öfter mal für mich die Tür geöffnet habe und einfach gegangen bin. Sehr zum Schreck meiner Eltern.
Hach, Frau Creezy, man müsste Sie in Gold aufwiegen. Für Ihr Kümmern, für die Geschichte und überhaupt.
AntwortenLöschenJa, lern Gebärdensprache. Das war die spannendste, schwierigste und doch irgendwie auch witzigste sprache, die ich je gelernt habe (bzw. noch lerne, ich weiß nach Kursen immer noch so wenig).
AntwortenLöschen(Es heißt aber noch lange nicht, dass man die Kinder dann versteht, wie ich jede Woche neu erfahre. Kinder nuscheln nämlich in jeder Sprache ;) )
Viele Grüße
Maike
"nach 4 Kursen", sollte das heißen...
AntwortenLöschenTolle Geschichte, vielen Dank!
AntwortenLöschen@Ramona: zum einen hat die Mutter vielleicht einfach Stil genug, dem Kind nicht vor Dritten, noch dazu Unbekannten, einen Einlauf zu verpassen.
Zum anderen erzieht sie ihr Kind vielleicht schlicht zur Selbstständigkeit und hält es nicht an der Leine. Kinder heute haben einen um 80-90 Prozent geringeren Bewegungsradius als in den 1970ern – und für die ihnen verbliebene Welt, in der sie sich unbeaufsichtigt bewegen dürfen, haben sie die elektronische Fussfessel namens Handy. Gruselig. Im Guardian war letztes Jahr eine anschauliche Grafik dazu, die ich leider gerade in meinen Bookmarks nicht finde.
Vielen Dank für diese Geschichte - wunderschön geschrieben, ich bin regelrecht hinter dem Mädchen hergerannt, atemlos die Treppen hoch und stand mit vor der Mutter, von der ich hoffe, dass sie vielleicht in dem Moment einfach nur noch garnicht richtig fassen konnte, wo ihre Tochter war und warum Sie dabei waren und überhaupt.
AntwortenLöschenMeine Kinder haben auch einen kleineren Aktionsradius als ich selbst früher - es ist ohnehin alles so schnell heutzutage, ich finde es ganz in Ordnung, dass sie ihre Schritte in die Welt langsam machen..
Du Herz, wer hin guckt wird mit solchen Herzmomenten belohnt ♥
AntwortenLöschenOh @KiKi bitte nicht missverstehen. Natürlich bin ich dafür, dass unsere Kinder zu Selbstständigkeit erzogen werden und natürlich sollen sie die Welt entdecken. Und natürlich vergessen die Kleinen beim Spielen auch gerne die Zeit. Nur glaube ich, ein 5 oder 6-jähriges Kind sollte im Großstadttreiben nicht allein und unbeaufsichtigt auf Entdeckungstour gehen können. Zumal die Kleine mit ihrem Handicap, noch besonderer Aufmerksamkeit bedarf.
AntwortenLöschenWäre meine kleine Tochter am späten Nachmittag nicht in meinem Sichtbereich zu entdecken, bekäme ich Panik.
Toll, was für eine rührende Geschichte. Und schön, dass es doch noch Menschen gibt wie Sie, die sich kümmern.
AntwortenLöschenWas das Verhalten der Mutter angeht, bin ich hin- und hergerissen.
Ist sie gleichgültig, nachlässig, desinteressiert oder hat sie ihrer Tochter ein stabiles Grundgerüst an Verhaltensweisen beigebracht und besitzt genug Stil, wie oben erwähnt, um die Tochter nicht vor Fremden zu tadeln?
Jedenfalls ist es gutgegangen (und bei der roten Ampel mit Ihrer Hilfe).
Bin gespannt, ob es eine Fortsetzung gibt.
Guten Morgen,
AntwortenLöscheneine wirklich schöne Geschichte...
Hatte ich schon gestern Abend gelesen und mir fest vorgenommen Dir dafür zu Danken... hat meine Stimmung aufgehellt!
gut geschrieben. gut gemacht. son bisschen kümmern schadet nie.
AntwortenLöschenund? hast du ein stofftier vor die tür gelegt?
AntwortenLöschen@all
AntwortenLöschenDas Stofftier habe ich vor die Tür gelegt. Aber letztendlich anonym. Insofern wird die Geschichte keine Fortsetzung haben. Ist aber auch gut so. ;-)
Da hast Du Glück, dass Du eine Frau bist. Als Mann würde ich mir sowas gar nicht getrauen. Da musste ja aufpassen, dass Du nicht gleich zum Kinderschänder in spe gemacht wirst. Egal. Auf jeden Fall alle Daumen hoch für Deine Aktion...
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