Jetzt nach einigen Tagen der Ruhe in meinen eigenen vier Wänden, einer Phase der Rekonvaleszenz, kann ich es zugeben: ich habe eine Rotz-Phobie. Rotz ist mein persönlicher Sparringpartner des öffentlichen Berlin-Lebens, auf den ich mindestens so prima verzichten könnte, wie auf Taubenkadaver am Straßenrand oder diplomierte Eckenstehpinkler. Ende letzten Jahres war ich kurz davor in dieser Stadt des Rotzes zu der sich Berlin immer mehr zu entwickeln scheint, durchzudrehen – alternativ mir selber einen Rotz-Egoshooter zu programmieren. Der Dezember in Berlin mit seinem ausufernden Rotz hat mir den Rest gegeben, wo und wann immer ich das Bedürfnis hatte auf ein Stück Boden im öffentlichen Raum angewiesen zu sein: Rotz war schon vor mir da und machte mir mein Leben verdammt schwer: «Berliner Bloggerin Opfer ihrer Rotz-Phobie. Tot!», hätte wohl in den hiesigen Stadtzeitungen gestanden, nachdem ich in einem Anfall einem dieser schmarotzenden Rotzer seine Rotzorgane fein säuberlich vom Rest seines Körper filetiert hätte, um wenigstens in einem Fall ein einziges Mal Ruhe zu haben vor dem Rotz. Das klingt grausam? Ieeeh-wo! Nicht für ein Opfer von Rotz-City.
Natürlich bin ich ja selber schuld an meiner Misere. Als Geburtsstätte und Aufzuchtsort wählte ich ein kulturelles Umfeld, in dem wir lernten «Bitte!» und «Danke!» und «Entschuldigung» zu sagen, nicht in der Nase zu popeln (wobei es hierbei insbesondere um das nicht öffentliche Popeln ging, was wir unter der Bettdecke taten war unser eigenes Ding), in der Gemeinschaft möglichst wenig zu furzen (wieso der Hund später diesbezüglich eine Ausnahmeregelung erhielt, hatte meine Mutter uns nie erklären können), andere Menschen unterwegs nicht anzurempeln und nicht auf den Fußweg zu rotzen. Das Hochziehen von Rotze war auch im akuten Stadium eines nasalen Infektes nicht gewünscht, dafür gab es Sputumröhrchen beim Lungenfacharzt oder Taschentücher, die wir übrigens auch nicht auf der Straße sondern im Papierkorb zu entsorgen hatten. Kurz: wir sollten durch andere Talente auffallen und die restliche Menschheit nicht grundlos belästigen. Diese erziehungsbedingten Einschränkungen, die die Sortierung unser ausgegebenen Körperflüssigkeiten im Großen und Ganzen regelte, macht mich ehrlich gesagt etwas empfindlich anderen Menschen gegenüber, die wiederum meinen, mich mit den ihren ständig konfrontieren zu müssen. Aus diesem Ungleichgewicht von Regeln und dem offensichtlichen Verstoß dagegen, entwickelte sich also bei mir über die Jahre als Bewohnerin dieser Stadt, das oben beschriebene Krankheitsbild: die Sputumphobie.
Berlin macht es dem Rotzphobiker nicht leicht. Weiß ein jeder, der auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen ist. Die bevorzugten Wartestellen der BVG, ein Eldorado für den Sputumsammler. Haben Sie in der vergangenen Weihnachtszeit auf Ihr bevorzugtes Verkehrsmittel wartend, einmal den Wunsch verspürt mit Ihren Einkaufstüten unverhofft höflich den Banksitz neben Ihnen nicht zu besetzen, sondern wollten diese geschickt auf dem Boden parken? Bingo. Irgendein Rotzologe war garantiert vor Ihnen schon vor Ort und hat sein Kurzzeitrevier mit geschickt platziertem Auswurf in kürzester Zeit im Halbkreis makiert, der nächste Rotzologe hat die Lücken gefüllt und der Dritte ein apartes Rotzumuster in zweiter Reihe etabliert, der Vierte setzt dem Ganzen die Sternenkrone auf, der fünfte Rotzkünstler kommt zum Glück erst, während Sie bereits in der S-Bahn sitzen und ein klein wenig verzweifelt auf den Fleck in Ihrem Abteil zu Ihren Füßen starren: Rotze. Dieses Mal in grün. Übrigens ist die beschriebene Situation ein ganzjähriges Phänomen. Schon mal vor einem der BVG-Aufzüge gewartet? Rotz. Schon mal in einem der BVG-Aufzüge gefahren? Rotz. Treppen zum Bahnhof hinab- oder hinauf gestiegen? Rotz. Wollten Sie ein einziges Mal nur an Neujahr der Allererste sein, der am Automaten das erste Ticket des neuen Jahres zieht? Forget it, Honey: Rotz schreit auch hier Erster!
Mein Tipp: Sollten Sie in einem dieser hübschen Verkehrsmittel auf Schienen unterwegs sein und den Wunsch verspüren auf einem Bahnhof auszusteigen auf dem der Zugführer versehentlich verspätet die Türen nach dem Halt zur Öffnung frei gibt, atmen Sie durch und vertagen Sie Ihr Vorhaben auf eine Station später. Seien Sie sicher, die Wartenden vor der Tür auf dem Bahnsteig werden diesen kurzen – allerhöchstens zehn Sekunden währenden Moment – erfolgreich dazu benutzt haben, den Bahnsteig auf kleinstem Bereich so voll zu rotzen, dass Sie nur noch eine Chance haben den Bahnhof unversehrt zu verlassen, wenn Sie mindestens im Besitz eines Seepferdchenabzeichens in Weißgold sind. Verfügen Sie aber nicht über das Talent eines Almsick'schen Goldfisches, seien Sie so klug und verschieben Sie Ihren Ausstieg lieber auf eine Station später, fahren Sie von dort den zurückliegenden Bahnhof neu und vor allem auf der anderen Bahnsteigseite (!) wieder an. Ihr Sinn für Ästhetik wird es Ihnen danken. Ihr Schuhsohlen vor Freude hüpfen. Und wer hat überhaupt schon immer seinen Schnorchel am Mann?
Aber Rotz macht sich auch ganz Berlin übergreifend breit, wie die Slime-Invasion in den späten 70igern auf unseren Schulhöfen: Neulich lief ein junger Mann vor mir, die Hände in den Hosentauschen und nahm faszinierenderweise einen Fußweg in kompletter Breite ein, auf dem sonst zwei Menschen problemlos den gleichen Weg gehen und bei Gegenverkehr auch vier Passanten bequem aneinander vorbei kommen, selbst dann hätte noch ein ausgewachsener Kampfhund dazwischen gepasst. Und zwar quer. So breit war der Junge, wow! Obwohl im Grunde ganz schmal vom Körperaufbau. Wie die das immer machen, ist mir ein neidisches Rätsel. Sorry, ich schweife ab.
Nun ist es üblich, das habe ich mittlerweile gelernt, in bestimmten kulturellen Kreisen als Frau drei Meter hinter dem Mann zu gehen. Ich verlängerte auf ca. zehn Meter, denn da bin ich gerne und ganz und gar professionelles Urweib. Insgeheim war ich aber nur eines: feige und weswegen? Rotz! Denn der Mann war eine wandelnde Rotzmaschine. Ungelogen alles zwanzig Meter rotzte er schräg nach links mir in der von mir selbstgewählen stetig ausbauenden Entfernung vor die Füsse. *Rrrrrrrrrrrherochggggg…rotz*, zwanzig Meter später: *Rrrrrrrrrrrherochggggg…rotz*, nochmal zwanzig Meter weiter *Rrrrrrrrrrrherochggggg…rotz*. Unser gemeinsamer Weg erschien mir mit der Zeit unangenehm lang, spätestens als ich merkte, dass ich mich an das abartige Geräusch zu gewöhnen schien. Erst wunderte ich mich, dann war ich mittelschwer beeindruckt, später machte ich mir Sorgen. Aufgrund einer medizinischen Vorbildung weiß ich ja, dass der menschliche Körper zu 80 % aus Wasser besteht, aber bei seiner deutlich hohen Auswurffrequenz, ohne gleichzeitig Material nachzuschütten, ahnte ich Probleme auf des jungen Mannes Körpers zurotzen. Als er dann irgendwann in einen Hausflur einbog, konnte ich nicht anders, nahm allen Mut zusammen, blieb stehen und sprach: «Entschuldigen Sie bitte, ist auch Ihnen aufgefallen, dass Sie alle zwanzig Meter auf die Straße rotzen? Das erscheint mir doch schon krankhaft häufig, haben Sie deswegen schon einmal mit einem Arzt gesprochen? Wie nennt sich diese Krankheit denn?» Der Mann glotzte mich an und formulierte dann einige Sätze in einer mir völllig fremden Sprache. Ich vermute, ich bin jetzt verflucht de Luxe bis zum Sanktrotznimmerleinstag. Dabei waren meine Sorgen wirklich echt und auch meine Neugierde mitnichten eine gespielte. So was muss doch behandelt werden!
Wenige Tage später hatte ich wieder ein denkwürdiges Erlebnis mit einem neuen Exemplar dieser Rotzfraktion. Läuft Señor Rotzo in etwa gleicher Höhe auf dem Fußweg, rotzt mir fast vor die Füße, entdeckt plötzlich den blonden falschen Stich in meiner Perrücke, identifiziert mich treffsicher als Weib und … baggert mich prompt an. Professionell innerhalb von zehn Sekunden zwei grandiose Fehlleistungen hingelegt! Und nun frage ich Sie: wieviele Frauen kennen Sie, die einen frischen Jüngling mit zu sich abschleppen, der gerade voher noch Bäuerchen mit lustig SpuckiSpucki gemacht hat? Ich will mir den Sex mit einem Kerl, der im Prinzip ein Lätzchen tragen sollte, nicht einmal vorstellen müssen! Was er nun übrigens auch weiß. Und ich muss wohl langsam zum Exorzisten, die Flüche …
Als ich kurze Zeit später zu Hause ankam, traf ich an der Stelle auf dem Gehweg direkt vor der Eingangstür wo man stehen muss, möchte man diese aufschließen auf einen riesigen – schlichtweg terminatös – zu nennenden Rotzfladen. Das war der Tag an dem ich unten an die Tür einen Zettel hängen wollte mit dem mitteilsamen frommen Wunsch, dass demjenigen, der für diese einzige Riesenrotzflut vor meiner Docking Station verantwortlich zeichnete, doch bitteschön bei Gelegenheit die Eier abrosten möchten. (Ach kommen Sie, seien wir ehrlich: die Makierung des eigenen Reviers mit Rotz ist zu 95 Prozent ein ziemlich von der jeweiligen Chromosomenverteilung abhängiges Phänomen.)
Übrigens, wer übermässig viel rotzt, bekommt Zwerghoden und wird mit spätestens dem 28. Lebensjahr an Impotenz leiden. Echt. Jetzt!
Spaß beiseite: Wussten Sie, dass auch in Deutschland die Tuberkulose wieder auf dem Vormarsch ist? Fängt man sich per Tröpfcheinfektion ein, die Erreger überleben unter günstigen Bedingungen schon mal zwei Tage … Wie? Sie auch jetzt plötzlich so phobisch?
Och, wissen Sie, mir geht es nach dem Artikel schon wieder viel besser. Danke für's Zuhören!
Soll ich jetzt nun vor Vergnügen oder mitleidend Rotz (prust) und Wasser heulen?
AntwortenLöschenDanke für dett echt schicke Jutenachjeschichtchen.
Örghs! Scheint, wie haben eine ähnliche Erziehung genossen was das Rotzen, Furzen, Poppeln etc. in der Öffentlichkeit angeht. Echt ekelhaft, wenn die Rotzerei so überhand nimmt. Während des Lesens dachte ich, ich wollte in meinem Kommentar mal dezent auf die vorrückende Tuberkulose hinweisen, um dann zu sehen, dass Sie das Problem schon selbst angesprochen haben. Unter dem Aspekt finde ich das ganze nämlich noch viel unangenehmer!
AntwortenLöschenKöstlich, also nicht das Ärgernis an sich, eher die (Be-)Schreibe des Problems ;)
AntwortenLöschenErsetzen Sie "Berlin" durch jede beliebige (deutsche) Stadt und Sie wissen, daß ich unter der gleichen Phobie leide. Ich kann es nur nicht so schön treffend beschreiben wie Sie. :)
AntwortenLöschenUrgs. Ja, ich weiß genau was Du meinst. Da meine primäre Aufgabe derzeit in der Aufzucht dreier Söhne besteht, hoffe ich, das ich einen Teil dazu beitragen kann, das die nächste Generation ......*naja, Du weißt, die Hoffnung stirbt zuletzt* Aber jetzt macht diese alte Bezeichnung von pubertierenden Jungen als "Rotzlöffel" doch wieder Sinn....
AntwortenLöschenDann bist du jetzt trainiert... reif für die Reise nach China... :)
AntwortenLöschenEine Freundin von mir ist im letzten Winter auf einem gefrorenen Rotzfleck ausgerutscht und hat sich das Steißbein gebrochen...
AntwortenLöschenEin guter, wütender und wichtiger Beitrag. Endlich werden mal Rotz und Reiter benannt. Leider gibt es gegen die schleimige Pest noch keine wirksamen Rotzschutzmittel, denn auch ein Rotzkäppchen hilft nur gegen den seltenen Rotz, der von oben kommt. Höflich tadeln, wie man lesen konnte, hilft auch nix, sofort wird wild gepöbelt oder der Rotzweiler auf einen gehetzt. Rotzbrocken, allesamt!
AntwortenLöschenGott, so spät schon? Jetzt muss ich mich sputum ...
Zieh nach München, da soll es angeblich weniger schlimm sein als in Berlin. Ich krieg hier trotzdem ab und zu die Krätze, insbesondere in und um öffentliche Verkehrsmittel.
AntwortenLöschentoller Artikel, aber eine Personengruppe hast Du vergessen, die schon seit "Urzeiten" den Boden vollrotzen: unsere "liebsten Kinder", die Fussballer
AntwortenLöschen;-)