2019-11-05
Die rote Box
Die rote Box stand hier die letzten Jahre immer irgendwo in der Wohnung herum, nachdem sie zuvor schon in der alten Wohnung immer irgendwo herum stand. Und ich kann sie getrost meinen persönlichen Pain in the Ass-Moment nennen. Die rote Box enthält nämlich, wenn auch grob geordnet, nicht wirklich sortiert Altlasten aus früheren Jahren.
Explizit und vorrangig heißt das persönliche Hinterlassenschaften meiner Mum, Telefonbücher, diverse Kalender, ein zwei Lederportemonnaies, Kalender und … Kalender. Hässliche Korrespondenz mit Unternehmen zwangsweise geführt nach ihrem Ableben. Bestattungsunterlagen. Kondolenzkorrespondenz. Einiges ihrer Privatkorrespondenz. Die Kontoauszüge der letzten Jahre usw.
Daneben letzte Rechnungen aus meiner Selbstständigkeit. Sammelsurium.
Etwas was man also mitschleppt. Von dem man weiß: den größten Anteil davon will man nicht, braucht man nicht, mag man nicht. Und irgendwie denkt man doch, vielleicht liest man das doch noch einmal. Begibt sich zurück. Kann das aushalten, irgendwann. Ich schreibe insbesondere von ihren Kalendereintragungen.
Da ich in der letzten Woche einige Dinge aus meiner Wohnung mutig und sauber dem Speermüll übereignet hatte, Stoffreste von denen ich weiß, die werde ich nie vernähen und gar nicht weiß, wie sie jemals in meinen Besitz gelangen konnten, einem guten Zweck zugeführt habe, x-viele Katzenkuschelkissen diese Woche der Tier-Tafel-Sammelstelle im Kiez vorbei bringen werde, bin ich gerade im Sortier-Flow. Ganz ohne Marie K-Dingsda oder Ratgeber-Phänomene.
Der Kram muss weg und in irgendeinem Anflug von Mut, Lösungsprozessen, Altlastenentsorgung habe ich mich heute an die rote Box gewagt. Einiges wie die Kondolenz-Post mit den Beerdigungsunterlagen hebe ich noch auf. Menschen, die über meine Mum liebevoll schreiben, das ist so schlecht ja nicht. Aber die anderen Dinge von ihr, die habe ich heute größtenteils ziehen lassen. Schlussendlich interessieren mich ihre Kontoauszüge nun nicht mehr und da wird auch behördlicherseits nichts mehr nachkommen, hässliche Post aus der Zeit ihres Todes brauche ich nicht – und die Einträge in ihren Kalendern beschäftigen sich vorrangig damit, wann sie bei welchem Arzt sie war, dass sie natürlich auch einsam war, ich nie oft genug angerufen habe. Jedes Mal, das sie mich angerufen hatte und ich damals nicht zu Hause war, wurde in dem Kalender vermerkt. Das hat mir nachträglich sehr die Brust zugeschnürt heute, das war teilweise alles nicht gesund. Das wusste ich schon damals und mich dem zu entziehen (müssen). das hat uns beiden viel Schmerz bereitet. Von ihrem Schmerz so plakativ zu lesen, das tut heute noch weh – auch wenn das wirklich ihr Ding war.
Schlussendlich wollte ich nicht von ihrer Liebe zum Kranksein bzw. sich darüber Liebe von anderen zu erzwingen, eingefangen werden. Bei aller Liebe zu ihr war vieles damals wahnsinnig schwer auszuhalten und ja, manchmal bin ich froh, dem mit ihrem Tod in den letzten Jahren auch entkommen zu sein. Es hatte mir schon von Kindheit an viel zu viel Energie gezogen.
Weg. Die letzten zwei Kalender hebe ich noch auf. Falls ich mich doch noch mal selber quälen will, irgendwann einmal. Oder mich daran erinnern möchte, warum ich Dinge, die ich tat, die mir natürlich heute leid tun, dennoch aus den sehr richtigen Gründen getan habe.
Alle Unterlagen, die sehr stark reduziert noch übrig sind, gehen morgen in dieser Box in den Keller. Ich werde allerdings dafür eine neue Box kaufen. Diese rote Box kann ich nicht mehr ertragen.
Es fühlt sich ganz gut an. Ich habe bis eben nur einmal daran gedacht die Kalender doch wieder aus dem Müll zu holen. Und es nicht getan.
In der Box sind auch viele Briefe, die ihre letzte Lebenspartnerin an sie geschrieben hatte. Briefe, die ich nicht lesen möchte, denn sie sind privat und schlussendlich, vermute ich, ist diese Frau noch am Leben. Ich hatte sie damals gefragt, ob sie die Briefe würde haben wollen, was sie verneinte. Aber weg tun konnte ich sie auch nicht.
Tsja, was macht man mit Briefen von Menschen an Menschen, die nicht mehr sind? Es ist nicht mein Ballast. Aber es sind immerhin Briefe eines Menschen an meine Mutter, die sie geliebt hatte damals.
Schon wieder ich.
AntwortenLöschenIch bin seit einer Woche dabei, den Haushalt meiner Mutter aufzulösen. Bisher nur die kleinteiligen Dinge aus Schubladen, davon hat sie viele ... Ich habe ungefähr 60 (sechzig) Taschenkalender mit Einträgen gefunden, zwei vorübergehend mit nach Hause genommen, weil ich ein paar Daten nachsehen möchte, dann fliegen sie auch in den Müll.
Ein riesiger Berg an erhaltener Post, von mir grob sortiert. Dabei zwei lange Briefe komplett gelesen. Sie zeigen mir, dass meine Mutter auch "draußen" nicht immer einfach war. Ich hielt manches bisher für Sondervorstellungen für mich.
Übrigens ist sie nicht verstorben, aber der Not gehorchend in einem Pflegeheim. Ich löse einen fast 65 Jahre alten Hausstand auf... Am Ende wird ein Umzugskarton mit persönlichen Dingen (für alle Fälle) aufbewahrt werden bis zu ihrem Ableben. Danach werde ich neu sichten.
Alles ist schwer, ich bin dort aufgewachsen, aber es wird von Tag zu Tag leichter, je mehr persönliche Dinge dort verschwinden.
Heute werde ich bei mir aufräumen, ich werde etwas Platz brauchen für Dinge, die ich zunächst beherbergen möchte. Und Bücher! Wohin nur mit den Unmengen an Büchern?
Für eine "rote Box" ist das noch zu viel.
Ganz liebe Grüße!