Der Bruder ruft an, nach Monaten. Das letzte Gespräch nach dem Tod der Tante als er großspurig ein Ticket für die Beerdigung kaufte, völlig überteuert und die Fluggesellschaft ihn infolge von Vulkanaschewolken nicht transportieren sollte. „Kauf ihr einen ordentlichen Blumenstrauß” von mir, ich bezahle Dir das.” Und dann: „Ruf an und erzähle, wie es war.”
Der gleiche Bruder ist bekanntermaßen mehrfach für Jahre aus unserem Leben abgetaucht, weil seine Kindheit so scheiße war, wie er heute noch als 49jähriger gerne häufig, eigentlich ständig betont. „Unser Vater …” und ich kann es nicht mehr hören. Ich erlebte die gleiche Kindheit. Ich sehe sie ein bisschen anders, diese unsere Kindheit. Vor allem will ich die Dinge, die in meinem Leben schief gelaufen sind oder laufen, nicht ständig an meiner Kindheit festmachen. Es erscheint mir bequem. Mit seinem Abtauchen hat mein Bruder viele Menschen alleine und ohne Antworten gelassen, die es nie verdient hatten, weil sie ihm, uns immer wohlgesonnen waren. Meine Tante gehörte dazu. Sie interessierte ihn nicht. Nicht in den ersten fünf Jahre seines Abtauchens, nicht als er dann plötzlich wieder auftauchte, um nach einem Streit mit meiner Mutter wieder zehn Jahre abzutauchen. Sie interessierte ihn eigentlich auch nicht, als er vor ca. vier Jahren wieder in meinem Leben auftauchte. Kein Anruf. Kein Nachfragen. Zufällig trafen sie sich erstmals im letzten Jahr anlässlich meines Geburtstages. Großes Happening seitens meines Bruders, großes Tara. Ich erinnerte ihn dann zehn Tage später an ihren Geburtstag, das war da schon wieder nötig, trotz der so großen Liebe. Ob er sie zu Weihnachten oder Sylvester angerufen hatte, weiß ich nicht. Ich bezweifle es ehrlich gesagt. Großes Tara dann auch als ich ihn anrief, um von ihrem Tod zu erzählen. Big Investment in den Flug, großes Theater, dass die „Arschlöcher” ihn dann nicht fliegen ließen. Es gibt bekanntermaßen keine anderen Möglichkeiten, um von München nach Berlin zu kommen. Vor allem nicht, wenn man mal eben 300 Euro für ein Flugticket hinzulegen bereit ist, um sich zu präsentieren für einen halbstündigen Abschied, nach fast zwanzig Jahren Nichts.
Als ich mich nach der Beerdigung nicht meldete, um zu berichten, wie frustrierend ich das alles fand, interessierte es ihn nicht. „Sein” Blumenstrauß? Bezahlt?
So ruft er letzte Woche an. Mein Geburtstag steht wieder bevor und natürlich will man hören, ob man nicht wieder die Chance hat den großspurigen Bruder zu geben. Den mit dem Schicksal, den mit den Schicksalen. Mein Bruder hat von meiner Mutter das Gen mit der Rampensau geerbt. Ich überhaupt nicht. Er tritt dann auf, positioniert und präsentiert sich in seinen liebsten Farben und geht dann wieder. Mein Bruder lebt innig mit dem Münchausen-Syndrom, immer schon. Immer schon erlebte mein Bruder die wundervollsten tollen Geschichten. Immer dann, wenn niemand dabei war. Als er das erste Mal abtauchte – die Vermutung liegt nahe, er war inhaftiert – war er jahrelang auf Schiffen auf Montage, in China, in Afrika. In Afrika war er mit einer Stammesprinzessin liiert. Oh und eine Tumor-OP wollte er gehabt haben. Gehirntumor. Große Reichtümer lagen auch auf seinem Konto, an das er nur gerade nicht heran kam, weswegen er plötzlich wieder auftauchte, um bei unserer Mutter zu leben und sich aushalten zu lassen. Es gab keine Fotos von seinen Reisen.
Als er dann zehn Jahre und einen Muttertod später wieder auftauchte, war es plötzlich ein Hodenkrebsrezidiv. Mein Bruder ist der einzige Mensch, den ich kenne, der ein Jahr nach der Chemo die gleichen schulterlangen Haare wieder in voller Pracht trägt. Dann kommt er zu Besuch, erzählt von seinen vielen schweren Medikamenten, nur hat er sie natürlich zufällig nicht dabei. Zwischendurch eine Gerichtsverhandlung, mal wieder, denn ihm wird Körperverletzung zur Last gelegt. Die Ex, die ihn natürlich während seiner schwersten Stunde alleine gelassen hat und sogar betrogen hat. Er, der er doch das schwerbehinderte Kind hat, dessen Mutter ihn kaum an dieses lassen möchte, obwohl er ihr nie etwas getan hat und er würde nie … Ich kenne meinen Bruder aggressiv und im Alkoholrausch auch übergriffig gegen seine Freundinnen. Ich war selber schon Opfer, als ich eine seiner Grazien einmal beschützen wollte. Er würde aber nie … Es sind immer die Frauen, die sich von ihm abwenden. Meist mit einem abschließenden Gerichtsverfahren. Unser Vater …
Wie gerne hätte ich dieses Talent geerbt, mir von morgens bis Abends meine eigene Verantwortlichkeit aus der Tasche zu lügen! Aber es bleibt mein großes Problem, ich würde ihm so gerne glauben wollen, alles, und ich kann es nie, weil immer, wenn ich es möchte, tauchen die Signale auf, die zeigen: doch wieder nur eine weitere Lüge.
Im letzten Jahr tauchte er zu meinem Geburtstag in Berlin auf. Natürlich nicht wegen mir, sondern weil er angeblich für einen Kunden eine riesige Baustelle ansehen sollte und Arbeiten in einem Angebot offerieren sollte. Zufällig hatte ich dann auch Geburtstag. Davon nie wieder etwas gehört, aber er war da, er dominierte, er zelebrierte, er war laut, er war er, er, er und ich, die sich einerseits sehr freute, fragte mich hinterher grenzenlos müde, wo war eigentlich ich an meinem Ehrentag? Wo war ich an diesem meinem Geburtstag als mein Bruder meine Freude laut und übermächtig bei Laune hielt und seinen Super-Bruder-Status präsentierte? Übrigens kein Wort von seiner Krebserkrankung, der zweiten.
So rief er, das Jahr ist rum, diese Woche an und als er fragte, wie es mir ginge, antwortete ich lapidar „schlecht”. Ich werde meinen Geburtstag dieses Jahr nicht feiern, mir ist nicht danach und das Letzte, was ich gebrauchen kann ist ein hier auftauchender Bruder, der mir meine letzten Energien raubt und meinen Ehrentag zu seinem macht. Dann folgten die üblichen Fragen, auf meine Antworten hörte ich nur „Du musst …” und: „Er würde das nie, er könnte sich das gar nicht leisten, er würde immer …, dabei hätte er viel mehr Recht darauf, dass es ihm schlecht erginge als ich, weil doch unser Vater … aber er schafft es trotzdem und er …” und „Du musst …” Ich wurde einsilbigerm denn „Du musst …!” ist völlig inkompatibel mit „Ich kann nicht …!” bis ich irgendwann mal sagte, ich hätte für dieses Telefonat jetzt keine Kraft und würde es beenden wollen. Da wurde schnippig (lustigerweise genau die gleiche schnippische Art, die ich so gut von unserer Mutter her kenne) aufgelegt. Ich erklärte ihm danach per SMS meine gesundheitliche Situation und bekam als Antwort, ich solle ihn gefälligst nicht anmaulen, wenn er sich mal meldet, nachdem ich mich ja schon monatelang nicht gemeldet hatte. Er weiß übrigens immer noch nicht, wie die Beerdigung seiner „geliebten” Tante war. Und wie sein Blumenstrauß aussah oder was dieser gekostet hatte. Er, er, er …
Er kann das so gut, sich in den Vordergrund stellen und alle anderen schuld sein lassen. Vor allem natürlich: unser Vater … Zunehmend wird mir bewusst, was ich nicht vermisst habe, in den Jahren seiner selbstgewählten Abwesenheit. Und zunehmend bin ich mir sicher, dass ich meine Galaxien nicht mehr an seinen ausrichten möchte, weil ich ständig in Sorge um seine Gesundheit, seine Freiheit, seine Vergehen, seiner Sorgen bin. In Sorge wegen seiner Geschichten, an die er sich Jahre später nicht mehr erinnern will, weil das Langzeitgedächtnis ihm Streiche spielt und er einen dann als Lügner oder Deppen darstellt.
Manche Menschen saugen mehr als sie zu geben bereit sind. Was bin ich dieser Menschen überdrüssig! Auch wenn sie der eigene Bruder sind.
Recht haben Sie, Frau Creezy. Nicht die Energien absaugen lassen von diesen üblen Vampiren. Auch wenn sie Familie sind und man sich doch eigentlich freut (freuen müsste). Nein. Muss man nicht. Loslassen, wegschicken, nicht mehr ins eigene Leben reinlassen. Auch wenn's erst mal weh tut - weil man müsste doch, der arme Kerl,... - nope. Ist kein armer Kerl, das haben Sie glaub ich schon richtig erkannt. Ist ein Kind das nie gelernt hat dass das Leben manchmal hart ist und dass man selbst dafür Verantwortung übernehmen muss. Müsse Sie ihm aber nicht beibringen, ist nicht Ihr Job, können Sie auch gar nicht. Aber sich selbst schützen, das können Sie. Tun Sie's. So gut Sie's halt vermögen.
AntwortenLöschen"Manche Menschen saugen mehr als sie zu geben bereit sind. Was bin ich dieser Menschen überdrüssig! Auch wenn sie der Bruder sind."
AntwortenLöschenIch tausche den Bruder gegen XXXXXXX aus - aber ansonsten gehe ich konform. Irgendwann ist es gut mit der Geschichte und man muss mal die Seite umblättern.
Es ist so immens wichtig, zu erkennen, wer einem Energie abzapft. Erst recht, wenn man alles braucht, um selber den Kopf über Wasser zu halten.
AntwortenLöschenHut ab vor deiner Entscheidung, und ich hoffe, dein Bruder akzeptiert sie.
Maike
Ich kenne das Gefühl recht gut, wenn alle an einem rumzerren und sich dann beschweren, wenn man sagt: Ich kann nicht mehr! Lasst mich in Ruhe mit euren Leben, ich hab ein eigenes und das ist mir gerade wichtiger!
AntwortenLöschenCreezy, meine Liebe, schwimm Dich frei, Du hast es Dir verdient und musst Dich bei niemandem, auch Deinem Bruder nicht, dafür rechtfertigen, dass Du selber Dir die Nächste sein willst.
Ich denk an Dich und ich drück Dir die Daumen. Die Zeiten werden besser. Immer. Auf irgendeine Weise, die man für sich selber findet. Hab Vertrauen dazu.
Liebe Grüße nach Berlin!
Es ist an der Zeit, dass Du mal sagst:
AntwortenLöschenIch, ich, ich.
Was ich brauche ist wichtig.
Was mir gut tut, mache ich.
Ich denk jetzt mal an mich und nicht nur an andere.
Liebe Crazy, ich verstehe dich sehr, sehr gut, aber: Ist so ein Text nötig? Jemanden öffentlich angreifen, statt etwas direkt mit ihm zu klären. Er mag 100x ein Arschloch sein und du magst 100x recht haben - zumindest aus deiner sich - sowas auf diese Weise an die Öffentlichkeit zu zerren ist noch weniger als schlechter Stil. Auch wenn kein Name genannt wird - schriebe jemand solche Blogposts über mich, würde ich ab da kein Wort mehr mit ihm reden. Aber vielleicht war das ja deine Absicht?
AntwortenLöschen@MonikaZH
AntwortenLöschenEs ist dieses Erleben nach langen Jahren ohne Kontakt, dass sich im Grunde nichts geändert hat. Auch wenn dieses Gefühl sonst keine Familie zu haben, keine gutes ist. Das lässt vielleicht das immer wieder aushalten …
@spontiv
Ich weiß, Du bist das schon viel weiter als ich.
@Maike
Tsja, ich denke, mein Bruder wird sie gar nicht zur Kenntnis nehmen. Er wird … abtauchen. Wie immer. Das kann er gut.
@Scholli
Ich danke Dir! Wirklich!
@Bhuti
Ja, ist wohl so. Schwer. Ich tue das ja eigentlich sehr gerne … ich bin nur so dumm, mich auch gerne darüber selbst zu vergessen.
@Enno
Ja, dieser Text ist nötig. Ich weiß nicht, wie lang Du mein Blog bereits verfolgst. Aber: ich führe hier ein Blog im Sinne eines Tagebuches, als in der Urform dessen war ein Blog jemals war. und nicht als eine fröhliche SEO-optimierte Kaltschale. Ich habe hier immer und insbesondere zu meiner familiären Situation gebloggt, aus der Tatsache heraus resultierend, dass meine Mutter sechs Monaten noch Blogstart unerwartet verstarb.
Und ja, damit ist meine Familie auch in die Öffentlichkeit gezerrt. Wiederum habe ich nie über mein Blog eine Öffentlichkeit mit meiner realen Person oder mit Klarnamen gesucht, das darfst Du in Deiner Kritik herzlich gerne bedenken. Beispielsweise gibt's mich nicht mit Blognamen auf dem Shirt auf einer re:publica.
Dieser Text ist im Grunde nichts als der Abschluss einer Quadrologie. Er ist somit völlig sinnvoll. Für mich –und auch für die meisten meiner Leser, die mein Blog schon lange lesen. Es müssen sich nicht alle mit meinen Texten wohl fühlen. Das geht auch nicht. Das Leben ist eben nicht so, dass man sich ständig wohl fühlen kann. Und Offenheit und Ehrlichkeit im persönlichen Leben, ist für mich das Lebenselixier dieses Blogs. Sonst würde ich es nicht führen.
Ich drück dir ganz fest die Daumen und denk an dich. Texte wie dieser sind notwendig. Auch das Internet braucht Wahrheit, die manchmal eben nicht so schön ist.
AntwortenLöschenDu hast völlig recht, Deinen Bruder an der Schwelle Deines Lebens stehen zu lassen und ihn nicht hereinzubitten. Und ich finde es auch in Ordnung, dass Du quasi öffentlich mit ihm abrechnest. Jeder Mensch hat irgendeinen "Bruder", der ständig ins eigene Leben wie in einen See hineinspringt, Riesenwellen macht und in dem Augenblick, in dem man fast ertrinkt und Hilfe braucht, einfach wieder verschwindet.
AntwortenLöschenDu hast echt Glück, dass Dein Bruder nicht um die Ecke wohnt und Du ihn so auch wirklich auf Abstand halten kannst. Und das ist das Positive an der Sache - er kann Dich zwar anrufen, aber nicht alle 5 Minuten klingeln.
;-) also Kopf hoch !!!
Oder wie ich es kürzlich mal auf Twitter las (ist ja manchmal auch nicht hohl): "Manchmal musst du aufstehen & gehen, damit die Person auf der anderen Seite der Wippe auf den Boden fällt & merkt wie du sie getragen hast."
AntwortenLöschenIst dein Bruder empathiefähig? Hast du je erlebt, dass er glaubhaft Mitgefühl mit jemandem gezeigt hat?
AntwortenLöschenIch frage, weil sich das alles ein bisschen wie narzisstische Störung liest.