2008-05-02

Mein Bruder

Ich hatte noch einen. Neben dem einen anderen. Kommen hätte er wollen zwischen meinem Bruder und mir. Aber während meine Mutter bei mir dickköpfig vorne in die Praxis der Engelmacher, wo ihre Mütter ihr die Termine gemacht hatten, hinein ging und hinten wieder raus bzw. gar nicht rein und somit auch nirgendwo raus musste und den Müttern erklärte, sie sei schon zu weit, der Arzt wolle das nicht mehr tun, zeigte mein zweiter Bruder zu schnell nach meinem ersten Bruder alle Anzeichen seiner werdenden Anwesenheit. Da wollte und konnte meine Mutter nicht noch ein Baby haben. Zu anstrengend war die erste Schwangerschaft und Geburt, zu hart das Leben mit dem Baby und Arbeit und dem Mann, der, wie ihr zu diesem Zeitpunkt bereits dünkte, ihr dann wohl doch keinen Himmel auf Erden bieten wollte, denn der wollte keine Kneipen zulassen.

Als mein Bruder dann gehen musste, erzählte man meiner Mutter hinterher, es wäre ein Junge gewesen. Spät dran war sie damals auch, aber der Akt an sich war zu dieser Zeit so und so nicht legal. Da beendete man für mehr Geld auch älteres Fötenleben.

Ich weiß gar nicht mehr genau, wie alt ich war als mir meine Mutter das erste Mal von meinem anderen Bruder erzählte, der nicht sein durfte. Vielleicht acht, vielleicht zwölf – irgendwann innerhalb dieses Zeitraumes. Ich fühle mehr gegen acht Jahre. Vielleicht zu früh, um einem Kind das zu erzählen. Aber meine Mutter war da nie so zurückhaltend. Was raus musste, musste eben raus. Ich erinnere mich, meine allererste Beziehung zu meinem ungeborenen Bruder war von Erleichterung getragen. Damals kostete mich schon mein geborener Bruder so viel Nerven und machte uns in dieser Zeit das Leben reichlich schwer, dass ich faktisch in der Familie nur noch nebenbei existierte. Der Bruder, der nur mit mir zankte, der sich ständig schlug, auch mit seinen Lehrern, der nicht nur einmal sondern gleich mehrmals für mehrere Nächte abhaute und meinte, die Nächte draußen in Onkel Toms Hütte zu verbringen, das wäre das Richtige für einen Jungen mit elf Jahren. Die Mutter, ein einziges Nervenwrack. Ich meinte damals wohl, alle Brüder wären so und noch einen dieses Kalibers hätten wir nicht gut gebrauchen können. Aber dennoch mit dem Moment dieser Information, hatte ich einen zweiten Bruder. Er war nie ein Haufen Zelle für mich, auch wenn er bis heute kein Gesicht für mich hat, war er auf einen bestimmte Art anwesend, fast real.

Später dann, als der geborene Bruder glaubte, es wäre klug zum trinkenden schlagenden Vater zurück zu gehen, vor dem ihn meine Mutter mit dem Weggang und der Scheidung retten wollte, da wurde ich fast zu einem Einzelkind, was ich liebte, denn kaum etwas gefiel mir damals schon besser als das Alleinesein, weil die aufgeregte Kinderseele nach elterlichem Scheidungsdebakel und familiären Twisten und ausflippenden geborenen Brüdern endlich mal zur Ruhe kommen wollte, da dachte ich manches Mal an den ungeborenen Bruder und fragte mich, wie er denn wohl so gewesen wäre und ob das Leben schöner mit ihm gewesen wäre – oder nicht? Und noch etwas später dann bekam ich ein dankbares Gefühl dafür, dass es mich ohne seinen Tod wohl nie gegeben hätte. Den besonderen Umstand meines Daseins musste ich im Älterwerden erst realisieren. Er oder ich. Da war mir klar, wer mich beschützte.

Die Kinder, die nie leben dürfen, die trägt man immer bei sich. So sagt man. Und das ist auch gut so. Ich kann mich nur an zwei Gespräche mit meiner Mutter über ihn erinnern, trotzdem war er immer bei ihr. Das weiß ich, denn er war auch immer bei mir. Viele Jahre habe ich wenig an ihn gedacht. Immer mal. Wieder. Habe gewusst, es gab ihn und doch nicht. Da war er immer.

Neulich aber fiel mir auf, wie erstaunlich nahe er mir seit dem Tod meiner Mum gekommen ist. Während der andere geborene Bruder bis heute durch Abwesenheit und überhaupt keine Reaktion glänzt, ist dieser nie geborene Bruder immer mehr zu einer wichtigen Person geworden. Schwer ist das zu erklären. Aber der härteste Prozess nach dem Abschied von ihr, neben der Trauer und dem zeitlich etwas längeren Weg als üblich zur ihrem schönen Freigang, war für mich realisieren zu müssen, dass ich einfach die Letzte dieser Familie im engeren Kreis bin. Ich betrachte mich schon noch als jung. Aber dennoch: es gibt niemanden mehr aus der direkten Blutlinie, den ich noch zu Grabe tragen werde bis man mich eines Tages irgendwohin legt. Diese Erkenntnis ist unglaublich schwer, das sich daran heran tasten tut immer noch weh. Da ist eine Form von innerer eisiger Einsamkeit, so habe ich sie noch nie erlebt und sie kam für mich viel zu früh, und sie war und sie ist immer noch sehr schwer auszuhalten, da helfen auch die vielen guten lieben Freunde um mich herum nicht. Dieses Alleinesein ist ein ganz anderes. Schwereres.

Es gibt immer einen Grund, warum ein Mensch auf diese Welt kommen soll, selbst wenn er es nicht bis zu einem ersten eigenen Atemzug schafft. Und dann ist da dieser ungeborene Bruder, der mich nie verlassen hat und es auch in Zukunft nicht tun wird, weil sich sein Zustand im Gegensatz zu dem der anderen Lieben vom Dasein zum Wegsein nie geändert hat und es auch in Zukunft nicht wird. Weil seine Aufgabe zu seien scheint, bei mir zu sein und mich zu beschützen. Wie er es von Anfang an getan hatte. Und mir jetzt mehr denn je ein Gefühl gibt, so ganz alleine bin ich gar nicht in diesem sehr besonderen Sinne.

So sind sie wohl meine Brüder, der eine, der da sein könnte, der ist nicht da. Der, der nicht da sein kann, ist immer da.

Und irgendwo sind sie: Die Großeltern, der Vater, die Mum, die vielen Katzen in all diesen Jahren, vielleicht schon der andere geborene Bruder, das weiß ich nicht, der Ungeborene aber bestimmt. Ich hoffe sehr, sie haben sich nun für immer, sie vertragen sich und es geht ihnen gut. Und irgendwann lerne ich ihn vielleicht wirklich persönlich kennen, meinen großen ungeborenen Bruder. Vielleicht holt er mich ja eines Tages ab, wenn es soweit ist, ab. Ich würde mich sehr freuen.

11 Kommentare:

  1. Erst wollte ich nur einen stillen Punkt setzen, doch für einen vollständigen Satz reicht es dann doch, den ich hier voller Respekt eintippe:

    Danke, dass du diesen bewegenden Text mit uns teilst.

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  2. Ich danke auch.

    Meine verstorbene Freundin ist für mich ein Schutzengel, ich weiß, das ist jetzt eine andere Geschichte, aber ich musste daran denken.

    Wie bizarr eben das Schicksal manchmal spielt, der eine, der nicht da ist, ist da und der andere, der da sein könnte, ist seit langem nicht da. Man weiß es eben nicht, was er da oben einem so zugedacht hat.

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  3. wirklich ein sehr berührender Text - Ich schließe mich dem Dank von Markus und Frau Indica an.

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  4. Danke für den Trost, Frau Creezy, die Liebe hört nie auf.

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  5. sehr bewegender text. er hat mir meinen aufpasser wieder ins gedächnis gerufen. danke.

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  6. (ich drück' dich)

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  7. @all
    Danke für Nichtpunkt, ist ja auch mal schön etwas anders zu sehen. ,-)

    @anonym
    Gerne geschehen. Nein, die Liebe bleibt immer. Zum Glück. Ich glaube, die Liebe ist das was man gerne als «es bleibt die Energie» von uns übrig bezeichnet.

    @gaga
    merci! ,-)

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  8. Sehr berührend. Hart.

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Fröhlich sein, freundlich bleiben und bitte immer gesund wieder kommen!