Den Eurovision Song Contest zu gucken, das hat seit Twitter neue Qualität. Seit ein paar Regeländerungen auch neuen Wind in den Wettbewerb gebracht hatten, macht er sogar Spaß. Die Songs sind beliebiger geworden, Titts ’n Ass sind eingezogen, die männlichen Kollegen dazu beliebig austauschbar dank ihrer Dreitagesbärte. Aber: wer nicht wirklich Stimme hat, braucht dort nicht mehr anzutreten. Singen können im Vergleich zu früher dort wirklich alle, dünne Stimmen haben keine Chance. Musste Madonna dieses Jahr dann wohl auch lernen.
Nachdem gestern alle Songs gesungen waren, die multimediale Begleitung langsam wieder von ihrem LSD-Tripp runter kam, die Moderatorinnen brav ihre Klamotten gewechselt hatten, alle Fahnen übertrieben fröhlich in die Kamera geschwenkt wurden, die kleinen Frustis aus Island ihren minimalen Skandal produziert hatten, blieb ich wirklich ratlos zurück. Ich hätte nicht sagen können, wer das Rennen macht. So sehr beliebig gleich gut, gleich langweilig viele Songs waren, so breit aufgestellt waren auch die Acts, die es durchaus verdient hätten als Sieger gekürt zu werden.
Die neuen Punktevergaberegeln von „professioneller” Jury zu den Anrufern aus dem breiten Volk, war vergleichsweise spannend. Was für mich nicht gleichbedeutend ist, finde ich gut. Aber interessant zu sehen, wie sehr unterschiedlich die Meinungen dann doch sind – und wie sehr diese Stimmen der Masse eine vermeintlich sichere Nummer am Ende dann doch noch einmal umkehren können. Die professionelle Jurys auf alle Fälle sollten langsam mal in sich gehen, Spielchen wie sie Zypern und Griechenland immer wieder spielen (und einige Ostblockländer übrigens auch), nämlich sich untereinander die 12 Punkte zuzuschustern, denen möchte man nur noch zurufen: „Ey, get an european life!” Selten war deutlicher, wem es offenbar an offener europäischer Entwicklung mangelt.
Ich hatte meine Favoriten. Mahmood mit Soldi war für mich lange gesetzt – einfach weil ich den Song aufgrund der Italienreisen schon deutlich früher (und öfter) gehört hatte – ich finde ihn sehr gut arrangiert, perfekt gesungen – und inhaltlich wichtig. (Sohn rechnet mit seinem Vater ab, der die Familie früh verlassen hatte und der nie wirklich Interesse an seinem Sohn gezeigt hatte, allenfalls an der Knete die er verdient.)
Kobi Marimi, der für Israel „Home” sang, fand ich sehr gut in der Einblendung im Vorentscheid. Ein echter ESC-Song, wie er aber seltener nachgefragt wird heute. Gute Stimme, gute Show. Und diese Wimpern! Ich denke, er hat’s leider geschmissen mit seiner „Ich muss immer, nachdem ich den Song gesungen habe, weinen, weil das Lied so schön ist.” Die Emotion nimmt man dann doch niemandem mehr ab, wenn er das Lied zum 30. Mal gesungen hatte – und leider war er dann im Finale ein viel zu schlechter Schauspieler. Schade. Mir scheint, das hat man ihm sehr übel genommen. Trotzdem: hübscher Mann, schöne Wimpern, perfekte Zähne, tolle Stimme, schnulziges Lied. Eigentlich eine sichere Nummer. Aber … seine Zielgruppe guckt heute nicht mehr den ESC und ruft auch nicht mehr an. Erwähnte ich schon die Wimpern?
Norwegen und Schweden und Aserbeidschan waren für mich alle drei gleich auf. Gute Tanznummern. Songs, die man nur einmal gehört haben musste, um sie wieder zu erkennen. Den Schweden fand ich einen Tick besser. Sehr ESCesque.
Island. Electronic Body Music ist mir seit jeher die nähere Musik als Pop und Schlager. Insofern fand ich die lustig und war von der Musik nicht überrascht, wie vermutlich einige andere. Aber für die „Wir sind eine total böse Band”-Nummer bin ich dann doch zu alt, die Performance war echt lau. Aber ich habe natürlich den Berliner/Metropol/Sage Club/Berghain-Vorteil und kann das halt nur noch niedlich finden. Befremdlich finde ich immer noch, wenn mir Leute allzu direkt auf die Nase binden, wohin ihre sexuelle Präferenzen gehen. Ich möchte vorher erst mal fragen dürfen. Sehr oft finde ich nämlich Leute gar nicht so interessant als das ich mir überhaupt Gedanken darüber machen möchte, wie, warum und mit wem sie ficken. Und gruselige Kontaktlinsen-Effekte? Sind so etwas von schon seit Jahren durch. Bitte! Danke! Tsja, da war die Zeit gesamteuropäisch nicht reif für diese Lordi-Nachfolgenummer.
Ich hätte sehr viele Nummern zum Sieger gekürt. Aber ganz sicher nicht den Niederländer. Freut mich trotzdem für ihn und sein Land, wird nächstes Jahr sicher wieder sehr schön werden. Leider wird das musikalische Europa ihn in vier Wochen schon wieder vergessen haben.
Die ganze Show selbst, mit den Tanzeinspielern, den lustigen Rückschnitten aus den vergangenen ESC-Jahren, die Partystimmung – ich finde, Israel hatte das sehr gut und liebevoll gemacht, hier und da richtig schöne emotionale Bonbons verteilt, eine absolut runde Nummer – auch mit den Pausenacts. Bis auf: Madonna. Und: Die multimediale Begleitung sollte die Künstler begleiten, sie nicht nicht übertönen noch übertrumpfen. Weniger ist dann doch mehr. Wir sind doch immer noch beim ESC und nicht bei der Transmediale oder?!
Seit der Ankündigung, dass Madonna beim ESC auftreten würde, um ihre neue Platte zu promoten, fand ich es blöd. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn der/die/das Vorjahresieger*in*nnen dort in der Pause ihre neue Platte promoten, schlussendlich haben sie den ESC das Jahr zuvor in ihr Land geholt. Aber einen Superstar, der generell schon alles überstrahlt mit dem Erfolg, der ihr bekannten Diva-Attitüde auf die Bühne holen – ganz falsches Podium. Das ist allen anderen Teilnehmern gegenüber so sehr ungerecht! Und ich – entschuldigt bitte, wenn ich das so deutlich sage – kotze im Strahl, wenn sich eine Person mit einer Augenklappe schmückt, die zwei völlig funktionstüchtige Augäpfel ihr eigen nennt (und dann noch ein Sichtloch in der Augenklappe hat, weil ihr der Mut mit der Auseinandersetzung fehlt, sich zeitweilig wirklich mit der Sehbehinderung eines Einäugigen auseinander zu setzen.) Was für ein verdammter Mist. Was hat die Alte eigentlich da geritten?
Ich wusste schon immer, dass Madonna ein dünnes Stimmchen hat – was sie in meinen Augen aber immer gut über ihr Tanztalent und sonstiges künstlerisches Gedöns um ihre Person gut zu kompensieren wusste. Nun hat sie nicht mal mehr nur ein dünnes Stimmchen, sie kann auch nicht mehr den Ton halten. Das hat sie wohl mit mir gemeinsam. Nur: ich gehe nicht auf die Bühne vor ein Millionenpublikum und singe dort live, weil ich das weiß. Madonna weiß das nicht – und hat sich somit gestern selbst prima demontiert. Leider werden deswegen jetzt einige Leute vermutlich verklagt werden oder sonst welche Jobs verlieren. Wenn der zweite Song von ihr interpretiert, von ihrem neuen Album, einer der besseren Songs gewesen sein soll: okay, Madonnas Zeit ist vorbei. Wissen wir nun. Ich mag mir auch keine glatt gespritzten künstlichen Gesichter älter werdender Menschen angucken. Bei allem Respekt vor ihr, ihrem künstlerischen Schaffen über all die Jahre und die Arbeit, die sie ganz sicher hinein gesteckt hatte – alleine im Tanzstudio. Ein Altern in Würde würde ihr so viel besser zu Gesicht stehen.
Jeder Act hatte besser gesungen als Madonna. Alle live. Viel besser. Selbst Verda Serduchka (man erinnert sich: die silber glitzernde Diskokugel, Zweitplatzierte von 2007 mit ihrem „Dancing Lasha Tumbei”), die sich in der Pause mit einigen Gewinnern der Vorjahre und deren Songs eine großartige Battle lieferte, zeigte dabei, dass sie tatsächlich singen kann. Und: um Längen besser singen kann als Madonna. Viel besser. Die Battle mündete in einem grandiosen „Hallelula”-Finale unter anderem mit Conchita, das wohl gar kein Herz unberührt ließ. Wow!
Auch sehr wow: der französische Sänger Bilal Hassani und die Perfomance mit der wundervollen Ballett-Tänzerin. Was für ein Zeichen! Wie sehr traurig, dass dieser Sänger im Jahr 2019 in seinem eigenen Land nieder gemacht wird, weil er offen mit seiner Homosexualität umgeht. Mensch, hört auf so armselig zu sein. Dass ist nicht das Europa, so wie es mit seiner Entwicklung in die neue Moderne steht.
Nun zu uns: Ich hatte schon sehr fassungslos den Vorentscheid zur Kenntnis genommen. Ich fand da gar keinen Song oder Interpreten so richtig doll, also wählbar. Dass dann aber auch noch der schlechteste Song gewählt wurde, da hätte man fast schon wieder den üblich paranoiden technischen russischen Eingriff zur Verantwortung ziehen wollen. Aber bleiben wir bei der Eigenverantwortung: Wenn Deutschland meint, so ein schlechtes Lied von so belangloser Interpretation ins Rennen zu schicken, dann bekommt man halt keinen Punkt – von einem durchaus musikverständigen Publikum. Zwei junge austauschbare Frauen, die sich eng bekleidet auf der Bühne einen Großteil des Songs gegenseitig in die Visagen brüllen?
Eines muss man diesen Schwestern lassen: sie haben im Finale um Längen besser gesungen als die vielen Male zuvor, die ich sie hören musste und sie immer erschreckend dünn klangen. Aber … für meine Begriffe waren die 26 Punkte der professionellen Jury so sehr liebevolle Zuwendungen, die wir gar nicht verdient hatten mit unserem Beitrag. Ich hätte auf höchstens drei Punkte getippt. Freundschaftspunkte von Österreich, die dieses Mal aber tatsächlich uns so bewerteten, wie verdient war: mit keinem Punkt. So wie der Rest Europas.
Und das ist kein Politikum. Das hat nichts damit zu tun, dass Europa Deutschland vermeintlich nicht leiden könnte. Denn dann hätten wir im letzten Jahr nicht so weit vorne landen können. Das hat damit zu tun, dass wir die Entwicklung des ESC – lustigerweise von Menschen wie Stefan Raab aus Deutschland heraus mit initiiert – komplett verschlafen haben. Und die Konkurrenz aller anderen Ländern mittlerweile sehr groß ist. Und es eben so gar nicht verschlafen hat.
Und dann diesem Castact eine Typo „S!sters” zu geben, die in keinem Hashtag funktioniert. Nee ne? Ich meine: NEE NE???!!!
Zweitklassig oder drittklassige Songs und Interpretationen können dort nicht mal mehr einen Trostpreis gewinnen. Eat it! Die Hausaufgabe macht man typischerweise vor dem Vorentscheid in der Auswahl. Die war dieses Jahr komplett übel. Die Verantwortlichen sollte man hinterfragen. Das gestrige Ergebnis ist gerecht und richtig.
Und: Madonna kann nicht singen. Und für ihre selten dämliche Augenklappen-Attitüde, hoffe ich, zeigen ihre Fans ihr ordentlich den Stinkefinger! Ich hätte es schöner gefunden mir wäre ihre Blamage erspart geblieben. Das war es nicht wert. „Halleluja” war groß genug für eine Finale-Pause.
Danke Isral und Tel Aviv. Es war ein großes Vergnügen. Auch mit Euch, liebe Twitter-Timeline! <3