2015-03-27

Suizid

Ich denke, man muss die unterschiedlichen Arten von Suiziden verstehen, um das vielleicht irgendwann einmal begreifen zu können.

Es gibt den Bilanzsuizid, da guckt jemand auf sein Leben zurück, auf seine Zukunft, regelt alles und geht. So wie es Gunter Sachs gemacht hat.

Es gibt den krankheitsbedingten Selbstmord. Den Menschen in einer schweren depressiven Phase, Psychose oder Suchterkrankung wählen. Also Menschen, die sogar in Behandlung sind, aber für sich den Kampf nicht mehr kämpfen möchen und können.

Dann gibt es den spontanen Selbstmord. Da läuft irgendetwas im Leben schief, was den Menschen sehr tief berührt. Mehr vielleicht als er es selbst benennen könnte. Dann gibt es einen Moment – der sogenannte Trigger – der kann ganz lapidar sein, das Schlüsselbund fällt runter, man kommt nicht rechtzeitig an das Telefon, eine Tasse kippt um, die Sonne schiebt sich vor die Wolken und dann kommt es zu dieser Affekthandlung. Das sind die Leute, die mitten im Gespräch aufspringen und aus dem Fenster springen.

Vor allem im letzten Fall ist der Mensch gar nicht in der Lage Verantwortung für andere Menschen zu tragen. Dazu muss er keine verantwortungslose Person sein. Im Gegenteil. Aber in dem Moment ist die Person in einer mentalen Schleife gefangen, die ein Ermessen dessen, was getan wird, überhaupt nicht möglich macht. Es gibt nur noch einen Drang: dieser Situation zu entfliehen. Dieser Mensch steht in diesem Moment unter unermesslichen Qualen. Nennen wir es selbstverursachte Folter.

Es ist durchaus möglich, dass dem Co-Pilot vom Flug in den Sekunden überhaupt nicht bewusst war, dass er seinen Weg nicht alleine geht. Es ist gut möglich, dass der Mann den Piloten draußen gar nicht mehr gehört hat. Oder die Flugkontrolle.

Unser Bild vom Suizid ist viel zu sehr ZDF-Krimi gefärbt. Da stehen die Menschen immer auf dem Dach am Rand und lassen sich von den Kommissaren noch in Konversationen verwickeln. In der Realität sind diese Leute nicht zwingend überhaupt noch ansprechbar. Oder auch: sie reagieren nur noch mechanisch, das heißt, was sie da tun, tun sie nicht bewusst.

Was geschehen ist, ist unfassbar. Und unfassbar traurig. Viele Fragen, womöglich die wichtigsten Fragen, werden vermutlich nie beantwortet werden können.

Es ist ein fürchterliches Geschehen. Der Mann war krank.

11 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

(Hat Blogspot meinen Kommentar gerade gefressen, oder muss der noch freigeschaltet werden?)

creezy hat gesagt…

@Unknown
Offensichtlich leider geschluckt. Im Spam-Folder ist er nicht. Das tut mir sehr leid. ,-(

Jeky hat gesagt…

Sehr gut geschrieben, das trifft es genau. Prominente Selbstmorde wie der von Robert Enke oder der des Fussballprofis Andreas Biermann zeigen auch, dass in dem Moment der Entscheidung nichts anderes eine Rolle mehr spielt, nicht die geliebte Frau oder das geliebte Kind - es scheint nur noch einen Fixpunkt zu geben. Und man kann niemand in den Kopf schauen und merken, wann es soweit ist, vielleicht wusste er es eine Minute, bevor der Pilot die Kanzel verliess, selbst noch nicht. Auch das gehört zu den Dingen, die wir nie erfahren werden.

Eine schlimme Tragödie. Für alle.

Anonym hat gesagt…

Endlich einmal eine einfühlsame und ausgewogene Betrachtungsweise. Danke.

Unknown hat gesagt…

Ich hatte einen sehr langen Kommentar geschreiben … leider wurde er wohl gefressen.

Und nach dem ich nachgedacht habe, sage ich auch etwas anderes: Ich hatte darüber nachgedacht, ob jemand wirklich so eine lange Zeit eine solche Affekthandlung aushalten kann: Das Klopfen, die Anfragen des ATC, die lauten Warnungen "PULL UP! Terrain ahead! PULL UP! Too low! PULL UP! Don't sink! PULL UP!" — die letze Minute des Voice Recorders wird diese Stimme wahrscheinlich druchgehend zu hören sein.

Dann ist mir eingefallen, dass natürlich ab dem Moment, als der Pilot erfolglos versuchte, die Tür zu öffnen, wahrscheinlich nicht mehr zurückkonnte. Ab diesem Punkt war — tatsächlich realistisch betrachtet — das beste Ergebnis für den Co-Piloten, nie wieder fliegen zu dürfen. Und mit jeder Sekunde Fehlverhalten kam er § 315 StGB, "Gefährlicher Eingriff in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr" näher. "Der Versuch ist strafbar".

Und jetzt steht die Vermutung im Raum, dass die Tat ohnehin so im Affekt möglicherweise gar nicht passiert ist. Der Co-Pilot soll eine Krankschreibung für den Tag zerrissen haben.
Vermutlich hat er vermutet dass diese Krankheit — egal ob Grüner Star, Krebs oder Depression — sein Leben nicht mehr lebenswert sein lässt.
An dem Punkt fällt es mir dann schwer, weiterhin von Krank zu sprechen: Wer offenbar in ärztlicher Behandlung ist, und sich dann darüber hinweg setzt, und sich ans Steuer eines Flugzeugs mit 149 Menschen setzt, egal ob mit der Intention zu handeln, oder in dem Wissen, dass man nicht ganz stabil ist, der hat doch schon den Schritt vom Kranken zum Täter gemacht.
Nein, als jemand der selbst unter Depression gelitten hat: Wer noch so weit stabil ist, einen Flug zu beginnen, der hat auch Alternativen.
Und die Bild Zeitung hat dem Co-Piloten heute wahrscheinlich seinen Wunsch erfüllt: Er steht jetzt auf einer Stufe mit dem Papst.

Werner hat gesagt…

Also die letzte Kategorie spontaner Suizid kann ich kaum noch nachvollziehen. Ich empfinde hier die Zwickmühle anspruchsvoller, qualifizierter und hochspezialisierter Beruf, das Offenbaren von Schwächen, das Nichtfunktionieren bedeutet die Gefahr des sozialen Abstiegs, Arbeitslosigkeit, Alg 2 am Horizont, Perspektivlosigkeit für einen Endzwanziger. Aber warum die anderen mitnehmen, ich verstehe es nicht. Die Grauzone menschlicher Abgründe...

creezy hat gesagt…

@Unknown
Das geht, in der Fachsprache spricht man von dem „Tunnelblick” Wir wissen, dass sich jährlich – nicht nur hierzulande – Tausende von Menschen suizidieren, die am morgen noch pflichtgemäß zur Arbeit gegangen sind, dann einkaufen gegangen sind, aufgeräumt haben und dann gehen.

Zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen ist noch nicht bekannt, aus welchem medizinischen Grund der Mann krank geschrieben war.

Ich finde diesen letzten Passus mit der Bild-Zeitung ehrlich gesagt unpassend. Was wissen Sie von den Wünschen dieses Mannes? Lassen Sie uns sachlich bleiben. Danke.


Folgendes – ganz losgelöst vom jetzigen Fall – möchte ich einmal anmerken:

Aktuell merkt man in der öffentlichen Diskussion wie wenig hierzulande der Arbeitnehmer zum Thema Krankschreibung hat. Rein rechtlich ist es jedem Arbeitnehmer erlaubt trotz einer Krankschreibung arbeiten zu gehen. Die Bescheinigung ist lediglich eine Prognose des Arztes darüber, wie lange der Arbeitnehmer voraussichtlich nicht arbeiten kann. Sie kommt zu keinem Zeitpunkt einem Arbeitsverbot gleich. Das könnte höchstens eine übergeordnete Behörde bei z. B. ansteckenden Krankheiten aussprechen.

Man kann einem Patienten, der dennoch arbeiten geht, dann immerhin zu Gute halten, dass er sich in ärztliche Behandlung begeben hat. Die Gründe, warum jemand eine Krankschreibung nicht in Anspruch nimmt, sind sehr vielfältig (und leider ganz oft gesellschaftlich wohl gelitten): man fühlt sich selbst arbeitsfähig; man hat Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes oder man ist (krankhaft) pflichtbewusst.

In allen Fällen würde wohl niemand dem betreffenden Patienten einen Tatbestand vorhalten wollen, denn so schaden sich Arbeitnehmer allermeist nur selbst damit. Das wird in der heutigen Arbeitswelt seitens der Arbeitgeberschaft hier und da leider hingenommen.

creezy hat gesagt…

@Werner
Ja, und das ist unser Glück, das wir das nicht nachvollziehen können.

Die Crux ist, man kann mit einem solchen kranken Menschen noch einen Abend vorher an einem Tisch sitzen und er wird das gleiche Unverständnis wie wir ehrlich empfinden und äußern.

Das sind die menschlichen Abgründe, das stimmt. ,-(

kelef hat gesagt…

das sind doch alles spekulationen. ich meine: creezy hat natürlich völlig recht mit ihrer relativ nüchternen auflistung.

aber es gibt noch tausend andere möglichkeiten, die zu dem unglück - und das ist es auf jeden fall - geführt haben. so wie es für eine menge anderer unglücke ebenfalls eine reihe von möglichkeiten als auslöser gibt. mir sind da persönlich ein paar fälle bekannt, leider nur zu gut. was für den einen menschen nur eine herausforderung zu weiteren höchstleistungen ist, stellt für den anderen ein so grosses scheitern dar, dass ein weiterleben sinnlos erscheint.

es kann übrigens alles auch noch ganz anders gewesen sein als in den vielen vermutungen, und wenn der mutmassliche verursacher nicht irgendwo doch hinterlassen hat, warum er das geplant hat (so er es denn geplant hat), dann werden wir es vielleicht einfach nie erfahren können. punktum. das hilft jetzt weder den hinterbliebenen, noch denen die ab sofort in kein flugzeug mehr steigen, noch denen die aus anderen gründen darunter leiden, noch den sensationslüsternen leuten da draussen.

aber wir müssen akzeptieren, dass es zwischen himmel und erde dinge gibt, die wir weder erklären noch verstehen noch nachvollziehen können. wir können sie nur hinnehmen und die, die darunter leiden, zu unterstützen versuchen. das hat letztlich auch wesentlich mehr sinn als lüsterne spekulationen.

Anonym hat gesagt…

Holy Fruit Salad, das ist der beste, menschlichste und einfühlsamste Kommentar, den ich in den letzten Tagen gelesen habe. Vielen Dank, das gibt mir ein bisschen Glauben an die Menschheit zurück.
Ich will nicht spekulieren, aber zur Wahrnehmung. Ich habe ein Buch über Selbstmordattentäter gelesen (basierend auf Interviews mit Leuten, bei denen ironischerweise das Ganze nicht funktionierte), und da stand, dass sich in den letzten Momenten, wenn eh schon alles entschieden ist, die Wahrnehmung für die Leute massiv verengt - die nehmen dann wirklich nur noch sich wahr, ihren Herzschlag, ihren Atem, und nichts mehr von "Außen".

Ich wünsche allen, dass sie sich nie in einer Situation wiederfinden wie der Copilot, und allen, die Depressionen haben, wirklich gute Ärzte, ein unterstützendes Umfeld und den langen Atem, den es braucht, um da wieder rauszukommen.

Anonym hat gesagt…

Ich hab mich vielleicht unklar ausgedrückt, ich vergleiche den Copiloten nicht mit enem Selbstmordattentäter, mir geht es nur um die verengte Wahrnehmung in so einer extremen Situation.

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